Buchcover: "Das wahre Leben" von Adam Zagajewski

"Das wahre Leben" von Adam Zagajewski

Stand: 26.03.2024, 12:00 Uhr

"Das wahre Leben" ist der letzte Gedichtband von Adam Zagajewski. Hier versammelt der 2021 verstorbene polnische Dichter noch einmal seine großen Lebensthemen, und er zeigt sich auf der Höhe seines Könnens. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Adam Zagajewski. Das wahre Leben
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Hanser, 2024.
72 Seiten, 22 Euro.

"Das wahre Leben" von Adam Zagajewski

Lesestoff – neue Bücher 26.03.2024 05:53 Min. Verfügbar bis 26.03.2025 WDR Online Von Ulrich Rüdenauer


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Der karibische Literaturnobelpreisträger Derek Walcott nannte Adam Zagajewski einmal einen "weltlichen Mystiker". Das ist eine ziemlich gute Charakterisierung des 2021 verstorbenen polnischen Dichters. Seine Poesie überschreitet mit feiner Melancholie und zuweilen zartem Humor die Grenzen zwischen verschiedenen Welten, zwischen Gestern und Heute, Diesseits und Jenseits, zwischen großer Geschichte und anekdotischen Geschichten. Sein letzter Band, 2019 in Polen erschienen, ist nun in der gelungenen Übersetzung von Renate Schmidgall auf Deutsch zu lesen.

Die 53 Gedichte scheinen noch einmal komprimiert das aufzugreifen, was Adam Zagajewski zu einem der bedeutendsten Lyriker der an bedeutenden Dichtern nicht armen polnischen Literaturgeschichte macht. "Das wahre Leben", so der Titel des Bandes, hebt an mit einem Gedicht, in dem ein Greis mit dem Aussehen Tolstojs das mittlerweile im Ruhestand befindliche 20. Jahrhundert besichtigt: vom Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern der Picardie bis zu den Vernichtungsstätten des Zweiten Weltkriegs. All das wird nicht konkret benannt, sondern nur angedeutet – die Erwähnung von Bruno Schulz etwa verweist auf das Ghetto in Drohobycz, in dem der Schriftsteller 1942 von der SS erschossen wurde. Der Greis des Gedichts…

"…schweigt viel, lächelt selten.
Die Ärzte raten ihm dringend,
Aufregungen zu vermeiden.
[…] Er sagt: Eines habe ich gelernt.
Nur das Mitleid zählt –
mit Menschen, Tieren, Bäumen und Bildern.
[…] Es gibt nur das Mitleid,
immer zu spät."

Immer zu spät, das ist vielleicht eine der geheimen Formeln dieser Gedichte; immer zu spät ist das Mitleid, zu früh der Tod. Ein elegischer Ton zieht sich, wie man merkt, durch "Das wahre Leben". Konstanty Ildefons Gałczyński, Jean Améry oder C.K. Williams sind nur einige der Toten, die in den Gedichten wachgerufen oder deren Stimmen beschworen werden. Das sind Verneigungen, Zuneigungen. Denn:

"Freundschaft ist unsterblich und braucht nicht
viele Worte. Sie ist geduldig und ruhig.
Freundschaft ist die Prosa der Liebe."

Natürlich geht es auch an die Orte, die für Zagajewski mythische sind. Lemberg bzw. Lwiw ist der Geburtsort des Dichters, in Ostgalizien gelegen, Spielball der ihn umgreifenden Mächte; hin- und hergeworfen die Menschen, die dort zu Hause sind. "Regen in Lemberg" ist wie ein Stillleben, in dem Verlorenes, Verstörendes und Unauslöschliches zusammenstehen. Zwei Zeilen stechen heraus in ihrer Lakonie und ihrer umfassenden Beschreibung dessen, was die Barbarei im 20. Jahrhundert angerichtet hat.

"Zivilisation – fünf Silben.
Schmerz – nur eine."

Das Einreißen der Zivilisation, an deren Stelle einsilbiger Schmerz tritt: Orte, an denen sich diese Verwandlung konkretisiert, gab und gibt es viele. Von Drohobycz war schon die Rede. Von dort und aus anderen Städten wurden 1942 mehrere 100.000 Menschen ins Vernichtungslager Bełżec verschleppt und ermordet. „Bełżec“ heißt eines der eindrücklichsten Gedichte im Band „Das wahre Leben“.

"Der Sommer geht zu Ende, der Herbst hat noch nicht begonnen.
Was für ein schöner Tag, sicher sind die Brombeeren im Wald
schon schwarz wie die Münder der Geliebten im Stummfilm.
Und genau da siehst du Bełżec.
Geblieben sind nur Schotter und Schmerz, geblieben sind Stille
und die schläfrigen Bewohner, die
noch immer auf Antwort warten.
Die Brombeeren sind immer schwärzer.
Schwarz sind die Schatten, ausgehöhlt.
Schwarz ist verbrannte Liebe."

In die Erinnerungen mischen sich das Große und das Kleine – mit der anmutigen Behutsamkeit des wehmütigen Betrachters nähert sich Zagajewski den alle Vorstellungen sprengenden Schrecken; mit der ironischen Gebrochenheit des Verlusterprobten bewahrt er in wenigen Zeilen seine menschliche Zuversicht. Das schwebende Glück des Daseins liegt hier manchmal nur eine Zeile von der Schwere des Abschieds entfernt. Und doch sprechen all diese Gedichte davon, wie in der Kunst beides zusammenfinden kann – einmal heißt es vom lyrischen Ich, es wollte vor langer Zeit Weisheit im Gedicht finden, "und auch eine Art ruhigen Wahnsinn".

"Ich fand, viel später, Augenblicke der Freude
und das dunkle Glück der Melancholie."

Die Augenblicke der Freude sind beim Lesen dieses letzten Bandes von Adam Zagajewski so wertvoll und präsent wie das dunkle Glück der Melancholie.