MONITOR Nr. 675 vom 30.04.2015

Mit Kindern Kasse machen? Wie Heimkinder ins Ausland verbracht werden

Bericht: Nicole Rosenbach, Naima El Moussaoui, Jan Schmitt

Mit Kindern Kasse machen? Wie Heimkinder ins Ausland verbracht werden

Monitor 30.04.2015 10:14 Min. Verfügbar bis 30.04.2099 Das Erste

Georg Restle: „Kinder brauchen den Schutz dieser Gesellschaft, mehr als alle anderen. Vor allem, wenn die Eltern ausfallen, ist der Staat gefordert: Jugendämter oder Jugendhilfe. Dass ausgerechnet mit solchen Kindern Geschäfte gemacht werden, und dass staatliche Stellen dabei sogar mitmischen, das konnten selbst wir kaum glauben.

Bis wir nach Ungarn gefahren sind. Denn genau dorthin schicken deutsche Jugendämter Kinder, die ihnen anvertraut sind. Offiziell soll es da um individuelle pädagogische Konzepte gehen, um professionelle Betreuung - und um Zukunftsperspektiven für solche Kinder, die es hier in Deutschland besonders schwer haben. Was Nicole Rosenbach, Naima El Moussaoui und Jan Schmitt in Ungarn dann allerdings vorgefunden haben, das hat auch uns ziemlich sprachlos gemacht.“

So sieht eine individualpädagogische Maßnahme in Ungarn aus. Seit einem halben Jahr lebt hier ein deutscher Gymnasiast, nennen wir ihn Paul, gerade mal 11 Jahre alt. Hier ist er untergebracht, auf einem Hof bei einem ungarischen Handwerker, der kaum deutsch spricht und Paul vor einem halben Jahr noch gar nicht kannte.Was ist passiert?

Paul lebte im Heim, seit er 6 Jahre alt war. Seine Mutter konnte sich wegen ihrer schweren Depressionen nicht mehr um ihn kümmern. Stattdessen wollten die Verwandten Harald und Petra H. für das Heimkind sorgen. Regelmäßig trafen sie sich mit Paul. Alles sah gut aus. Paul kam sogar aufs Gymnasium. Aber schon kurz danach nahm ihn das Jugendamt von der Schule, schickte ihn nach Ungarn. Seine Mutter ist darüber schockiert.

Mutter von Paul: „In dem Moment, also, ist mir wirklich der Boden unter den Füßen weggegangen. Ich hab nur gedacht, das kann ja wohl nicht wahr sein! Alle Zelte komplett abgebrochen, die ganzen Möglichkeiten hier halt weiterhin zur Schule gehen zu können, soziale Kontakte, alles abgebrochen.“

Verantwortlich: das Jugendamt in Dorsten. Hier wird über Pauls Zukunft entschieden - und hier hat man verfügt: Paul soll nach Ungarn.

Wir wollen wissen, warum?

Und wir bekommen eine bemerkenswerte Antwort - vom Amtsleiter. Danach werden Kinder offenbar dann ins Ausland geschickt, wenn man in Deutschland kein „passendes“ Heim findet.

Dietmar Gayk, Leiter Jugendamt Dorsten: „Genau das jetzt passgenau zu finden, die Hilfe so zu installieren, dass wir das möglichst Beste für das Kind oder den Jugendlichen herausholen, ist eben die große Schwierigkeit, und letztendlich so als ultima ratio bleibt bisweilen nur die Auslandsunterbringung.“

Die letzte Möglichkeit? Und das, um Paul hier unterzubringen, auf unbestimmte Zeit, auf einemungarischen Hof zwischen Schrott und Gerümpel?

Und das ist Pauls „Individual-Pädagoge“: Istvan B., 64 Jahre, Handwerker. Die Stadt behauptet, er habe in einer Klinik in Deutschland Weiterbildungen zu Trauma- und Bindungsstörungen gemacht. Die Klinik jedoch teilt uns mit, weder sei Istvan B. dort gewesen noch würde man solche Weiterbildungen überhaupt anbieten.

Auf Deutsch können wir uns kaum mit ihm verständigen. Dem Dolmetscher sagt er aber, er sei schon geeignet.

Istvan B. (Übersetzung MONITOR, Stimme nachgesprochen): „Hauptsächlich durch Lebenserfahrung und auf autodidaktische Weise. Ein Experte sagte mir, das, was ich mache, das lernt man nicht in der Schule.“Und wie ist das mit Pauls Schule?

Reporterin: „Und wie viel Stunden hast Du am Tag Unterricht?“

Paul (Stimme nachgesprochen): „Nicht am Tag. Ich hab zwei Mal in der Woche Unterricht.“

Reporterin: „Oh, das ist ja nicht so viel, ne?“

Paul (Stimme nachgesprochen): „Hab‘ ich immer für zwei Stunden.“

Reporterin: „Zwei Stunden nur? Was ist das für 'ne Schule?“

Paul (Stimme nachgesprochen): „Das ist gar keine Schule.“

Istvan B. (Übersetzung MONITOR, Stimme nachgesprochen): „Web-Schule. Das ist wie eine Schule.“

Paul (Stimme nachgesprochen): „Ich krieg von Deutschland, krieg ich Materialien geschickt.“Zweimal die Woche, zwei Stunden Unterricht, eine Internetschule? Der Schulpflicht genügt das nicht. Aber Deutschland ist ja weit weg.Fast 8000 Euro lässt sich der deutsche Staat Pauls Betreuung in Ungarn kosten. Jeden Monat. Das meiste davon geht vom Jugendamt Dorsten an eine private Firma: die Life GmbH in Bochum. An die hat das Jugendamt die Organisation von Pauls Leben abgegeben.

Pro Monat bekommt Life fast 7000 Euro, weitere knapp 800 Euro gehen an die private Internetschule, die übrigens der Tochter des Life-Eigentümers Gerd Lichtenberger gehört. Der will uns weder zur Qualifikation des ungarischen Betreuers noch zur Schule etwas sagen. Und erst recht nicht dazu, wie viel Geld Life am Ende damit verdient.

Das Jugendamt weiß das auch nicht. Es bezahlt nur, ohne die Einrichtung in Ungarn zu kennen, geschweige denn zu kontrollieren.

Reporterin: „Vertrauen Sie erst mal auf den Träger?“

Dietmar Gayk, Leiter Jugendamt Dorsten: „Ja, anders wär’s nicht möglich. Wir haben vertragliche Vereinbarungen. Und genauso wie der Träger uns vertraut, dass wir monatlich die Zahlungen leisten, die ja nicht unerheblich sind in solchen Fällen, vertrauen wir auch dem Träger, dass er entsprechend das fachlichen Know-how mitbringt, damit die Ziele erreicht werden können.“

So einfach macht es sich die zuständige Behörde. Sie schaut nicht so genau hin. Und der 11-jährigen Paul? Für ihn gibt‘s jetzt Internetschule in Ungarn statt Gymnasium in Deutschland.Ein Einzelfall?

Pecs in Ungarn, nahe der Grenze zu Kroatien. Dies war bis 2009 ein Kinderheim und der Sitz der Neustart GmbH. Sie wurde gegründet, um hier deutsche Jugendliche zu betreuen. Auch Marcel war in diesem Heim zu einer individualpädagogischen Maßnahme. Heute schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Wir treffen ihn auf Montage im Allgäu. Zweieinhalb Jahre lebte Marcel in Ungarn, ohne Richtung, ohne Hilfe, so empfindet er es heute.

Marcel H.: „Wenn wir nicht zur Schule gehen wollten, durften wir auch weiterschlafen. Wir haben dort kiffen können und haben das auch getan. Das war eigentlich allen egal oder es wurde halt drüber weggeschaut bzw. nicht gesehen.“

Das bestätigt auch József B., einer der damaligen Betreuer von Marcel in Ungarn. Und er erzählt noch mehr: Die deutschen Kinder seien dort einfach abgestellt worden.

József B., ehem. Betreuer: „Normalerweise lief es so: Ein Erzieher hat ein Kind gebracht oder einen Jugendlichen und einfach dort stehen lassen bei uns. Wir hatten keine Methode, wir haben einfach nur was gemacht.“

Irgendwas gemacht – heißt: ohne pädagogisches Konzept?

Deutsche Kinder, in Ungarn verwahrt statt gefördert? Kann das sein? Wir stoßen auf eine eigenartige Konstruktion. Im Zentrum: dieser Mann, Alfons Wissmann. Nicht irgendwer. Wissmann ist der Leiter des Jugendamts in Gelsenkirchen. Und er - Thomas Frings - sein Stellvertreter. Beide hatten 2004 gemeinsam die Firma Neustart in Ungarn gegründet.

Ebenfalls wichtig: Dieses Kinderheim. Das St. Josef Heim in Gelsenkirchen. Nahezu alle Jugendlichen in dem ungarischen Heim kamen aus diesem Heim.

Wir treffen mehrere Informanten, die damals ganz nah dran waren. Sie erzählen uns übereinstimmend von einem angeblichen Deal zwischen Jugendamtsleiter Wissmann, dem Kinderheim in Gelsenkirchen und der Firma Neustart in Ungarn.

Demnach soll dieser Deal so ausgesehen haben: Jugendamtsleiter Wissmann und sein Stellvertreter Frings hätten zielgerichtet immer mehr Jugendliche ins St. Josef Heim nach Gelsenkirchen geschickt. Das Heim habe damit seine Einnahmen erhöht. Als Gegenleistung habe dieses Heim Jugendliche von anderen Jugendämtern nach Ungarn geschickt, an das Heim, das Wissmann und Frings gegründet hatten.

Der Jugendamtsleiter und sein Stellvertreter bestreiten, dass es solch ein Deal gegeben habe. Einen Interessenkonflikt habe es nicht gegeben.

Wir bekommen interne Belegungszahlen des Gelsenkirchener St. Josef Heims zugespielt. Und die zeigen: In den Jahren, in denen Kinder von dort nach Ungarn geschickt wurden, war die Gruppe, aus der besonders viele der Ungarn-Kinder kamen, massiv überbelegt.

2008 ist die Gruppe mit 139 Prozent, ein Jahr zuvor sogar mit 151 Prozent belegt. Vor allem mit Kindern aus Gelsenkirchen.

Das St. Josef Heim will diese Zahlen nicht kommentieren, eine Kooperation bestreitet man.

Jugendamtsleiter Wissmann und Stellvertreter Frings bestreiten, sich mit dem Heim in Ungarn bereichert zu haben. Fest steht allerdings: Für die Jugendlichen in Ungarn hat der deutsche Staat monatlich 5500 Euro an den Träger bezahlt.

Für Marcel – so sagt er uns – hat die Unterbringung in Ungarn nichts gebracht, im Gegenteil.

Marcel H.: „Ich komme mir heute dabei sehr benutzt vor, weil wir waren Jugendliche, die da ihre eigentliche letzte Chance erhalten hatten, die uns aber nicht gegeben wurde.“

Ein Jugendamtsleiter, der Geld mit einem Kinderheim in Ungarn verdienen wollte? Warum hat die Stadt Gelsenkirchen diese Nebentätigkeit überhaupt genehmigt?

Manfred Beck, Stadtdirektor Gelsenkirchen: „Wir haben dann sehr klar gesagt, wir wollen gar nicht in die detaillierte, rechtliche Prüfung gehen, sondern wir gehen davon aus, dass dieses Verhältnis schnellstmöglich eingestellt wird. Das ist geschehen.“

Glaubt die Stadt. Eine genaue Prüfung hielt man offenbar nicht für nötig.

Einige Monate nach der Gründung zogen sich Frings wie auch Wissmann offiziell aus der Firma zurück, übergaben ihre Anteile: Der eine allerdings an seinen Bruder, der andere an seine Frau. Und der Heimbetrieb in Ungarn lief weiter, vier Jahre lang, ohne dass sich die Stadt Gelsenkirchen dafür interessiert hätte. Bis heute ist Alfons Wissmann Leiter des hiesigen Jugendamts und Thomas Frings sein Stellvertreter.

Mit Kindern Kasse machen? Und das ausgerechnet mit denen, die Hilfe am dringendsten brauchen?

Marcel H.: „Uns wurde nicht gezeigt, wie Leben funktioniert, und das hätte uns dort gezeigt werden müssen, wie Leben funktioniert. Und als ich wieder in Deutschland war, war alles viel schlimmer als vorher.“

Georg Restle: „Ganz sicher ein Thema mit Gesprächsstoff. Also, diskutieren Sie mit uns wie immer im Internet unter monitor.de, bei Facebook oder wenn Sie mögen per Telefon.“

Anmerkung der Redaktion vom 06.05.2015:

Im ursprünglichen Beitragstext ist uns bzgl. des St. Josef-Heims in Gelsenkirchen ein Fehler aufgefallen, den wir mittlerweile korrigiert haben. Die konkreten Zahlen der Überbelegung bezogen sich dort auf das gesamte Heim. Richtigerweise beziehen sie sich jedoch auf die Gruppe des Heims, aus der besonders viele Jugendliche nach Ungarn geschickt wurden.

Stand: 06.05.2015, 16:11 Uhr