MONITOR vom 16.02.2017

Erfolgsmodell Mindestlohn? Die fragwürdigen Zahlen der Bundesregierung

Bericht: Stephan Stuchlik, Hanna Wangler, Klaus Kuderer

Erfolgsmodell Mindestlohn? Die fragwürdigen Zahlen der Bundesregierung Monitor 16.02.2017 06:07 Min. Verfügbar bis 16.02.2099 Das Erste

Georg Restle: „Von wegen sozial gerecht. Nur mal zum Vergleich: Die Steuer-Ersparnis für eine 4 Millionen-Jacht beträgt rund 400.000 Euro. Dafür müsste ein Mini-Jobber mit 450 Euro im Monat 74 Jahre lang arbeiten. Und daran ändert auch kein Mindestlohn etwas. Dazu kommt, ausgerechnet diejenigen, die am wenigsten im Land verdienen, werden am häufigsten um ihren Mindestlohn betrogen. Letzte Woche gab es hierzu neue Zahlen. Zahlen, die auch deutlich machen, dass die Erfolgsmeldungen der Bundesarbeitsministerin mit allergrößter Vorsicht zu genießen sind. Stephan Stuchlik, Hanna Wangler und Klaus Kuderer.“

Esther ist Studentin und verdient sich wie viele andere ihr Studium durch Kellnern. Waffeln backen, Kaffee ziehen, spülen. In diesem Café hier bekommt sie 8,84 Euro die Stunde. Mindestlohn. In dem Café, in dem sie vorher gearbeitet hatte, gab es deutlich weniger.

Esther Müller, Studentin: „Ich hab 6,00 Euro die Stunde bekommen. Dann hab ich zwei Tage Probe gearbeitet, und dafür hab ich gar kein Geld bekommen. Dann war, auch wenn ich krank war, hab ich dann halt andere Leute gesucht, die dann gearbeitet haben, dafür wurde ich dann auch nicht bezahlt. Ich hab keine Urlaubszeit bekommen, und dann war es auch so, dass wir immer eine Viertelstunde vorher kommen mussten vor der Arbeit, wo wir halt dann auch noch arbeiten mussten, da wurden wir nicht bezahlt.“

Sie und ihre Freundin wehrten sich vor Gericht, Esther bekam 1.300 Euro zurück. Ihre Freundin 700 Euro, wegen zu wenig Lohn. Aber nur die Wenigsten wehren sich.

Tricksen bei der Arbeitszeit, laut Andrea Nahles sollte das der Vergangenheit angehören. Das Mantra der Ministerin:

Andrea Nahles, Bundesarbeitsministerin (29.1.2015): „Der Mindestlohn gilt, flächendeckend, ohne Schlupflöcher.“

Und hier sind die Zahlen, auf die sie sich stützt: In diesem Bericht steht, dass fast alle Minijobber bekämen, was ihnen zusteht. Von den geringfügig Beschäftigten wurden demnach 2015 gerade einmal 13 Prozent unter Mindestlohn bezahlt.

Prof. Gustav Horn, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung: „Ich halte die Angabe von 13 Prozent für nicht aussagekräftig. Es handelt sich hier um eine Befragung, an der Unternehmen freiwillig teilnehmen konnten. Man kann, glaube ich, mit Fug und Recht davon ausgehen, dass diejenigen, die die Bestimmungen verletzen, überhaupt nicht teilgenommen haben oder sich zumindest nicht zu der Verletzung bekannt haben. Insofern ist der Erfolg, den die Bundesregierung hier reklamiert, ein vermeintlicher Erfolg - mit diesen Zahlen lässt er sich nicht belegen.“

Wir hören uns bei den Taxifahrern um, die nächste typische Branche für Minijobs. Unser Fahrer will nicht erkannt werden. Seit Jahren jongliert er mit drei Jobs, um über die Runden zu kommen. Die Nachtarbeit im Taxi ist nur einer davon. Eigentlich müsste er mit dem Mindestlohn jetzt mehr Geld in der Tasche haben, aber weit gefehlt.

Taxifahrer: „Der Mindestlohn wird umgangen, indem man dem Taxifahrer offiziell - nach Mindestlohnabrechnung - acht Stunden pro Tag bezahlt. Der Taxifahrer arbeitet aber in Wirklichkeit zehn bis zwölf Stunden. Und schreibt dann auf, wenn er zwölf Stunden arbeitet, acht Stunden hat er gearbeitet. So wird es gemacht.“

Reporter: „Aber wenn Sie sagen, acht Stunden, für die ich zwölf Stunden arbeiten muss, mach ich 50 Prozent quasi unbezahlt.“

Taxifahrer: „Ja, so können sie das sehen.“

Reporter: „Das heißt, das weiß jeder?“

Taxifahrer: „Das weiß eigentlich jeder.“

Ein flächendeckender Betrug bei Minijobs also. Wirklich?

Seit einigen Wochen gibt es eine neue Studie zum Mindestlohngesetz, Toralf Pusch von der Hans-Böckler Stiftung hat sie erstellt; er hat dazu eine Befragung unter Beschäftigten aus 2015 verwendet. Neuere Zahlen gibt es nicht. Er kommt auf 44 Prozent Verstöße.

Toralf Pusch, Hans-Böckler-Stiftung: „Ich war sehr erstaunt. Im Jahr 2015 hat knapp jeder zweite Minijobber nicht den Mindestlohn erhalten, obwohl er ihm eigentlich zustand. Das heißt, das viele Unternehmen das Mindestlohngesetz nicht umgesetzt haben.“

13 Prozent bei Befragung der Arbeitgeber gegen 44 Prozent bei Befragung der Arbeitnehmer, beide im selben Untersuchungszeitraum. Beide Studien haben ihre Unschärfen, aber welche Zahl ist realistisch?

Prof. Gerhard Bosch, Universität Duisburg-Essen: „Für Forscher ist es überhaupt nicht überraschend, wenn Unternehmer und Beschäftigte zum gleichen Sachverhalt unterschiedliche Angaben machen. Die Unternehmer, die den Mindestlohn nicht zahlen, werden in einer Befragung natürlich nicht unbedingt die Wahrheit sagen, so dass wir zu niedrigen Zahlen kommen. Die Beschäftigten haben da gar keinen Grund, sie sind auch stolz, wenn sie Lohnerhöhung bekommen und werden das angeben. Die Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung sind sicherlich zuverlässiger, kommen der Wahrheit viel näher, als die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, die die Unternehmen befragen.“

Der Mindestlohn wird bei Minijobs umgangen, das zeigt auch ein Blick ins Reinigungsgewerbe. Sabine musste putzen im Akkord, egal wie viele Überstunden, egal wie viele Büros, egal wie viele Tage der Monat hatte, ihre Arbeitgeberin bezahlte immer gleich.

Reinigungskraft: „Ich find das schon auch einfach frech, dass man dann einfach einen gewissen Satz nur bezahlt, obwohl man für mehr gearbeitet hat und das Geld steht mir ja zu, ich hab ja dafür gearbeitet auf jeden Fall. Und ja, so nach dem Motto, wenn die das nicht nachrechnen, merken die das auch nicht, so hab ich mich dann halt gefühlt, das war dann wirklich halt auch ein bisschen mies und - ja.“

Der flächendeckende Betrug hat möglicherweise auch mit mangelnder Kontrolle zu tun. Seit Einführung des Mindestlohns kontrolliert der Zoll nämlich erheblich weniger. Die Zahl der Kontrollen sank von 63.000 Überprüfungen 2014 auf 43.000 Überprüfungen im Jahr der Einführung des Mindestlohns, eine Abnahme um fast ein Drittel. Der Zoll sagt uns auf Anfrage, die Überprüfung des Mindestlohns sei zeitaufwendig, deshalb könne man insgesamt weniger prüfen.

Die Bundesregierung gibt auf unsere Anfrage immerhin zu, dass bei Minijobs ein erhöhtes Risiko von Rechtsverstößen bestehe. Insgesamt sei der Mindestlohn aber ein großer Erfolg.

Kommentare zum Thema

  • Thorsten 08.02.2018, 17:01 Uhr

    Heute Schlagzeile der verdi Publik Betrug beim Mindestlohn Laut Studie des DIW der dem Artikel zugrunde liegt,wird beim Mindestlohn betrogen und getrickst.

  • RDA 04.03.2017, 11:53 Uhr

    Der Mindestlohn ist richtig. Der Fehler ist schlicht, dass mit Teilzeit- und Minijobs sowie Werkverträgen das Einkommen der Beschäftigten dennoch unterhalb der ALG II-Grenze bleibt. Das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis muss die Regel bleiben. Nur mit Begründung (Kindererziehung, Pflege, Ausbildung, Krankheit, ...) sollte es möglich sein, auch "atypisch" beschäftigt zu sein und den Rest mit ALG II aufzustocken. Momentan setzt das SGB II Fehlanreize für Arbeitgeber, nur Teilzeitstellen oder Minijobs anzubieten und die Leute dann auf aufstockendes ALG II zu verweisen.

  • Gustav Mazerat 20.02.2017, 10:22 Uhr

    Die Überschrift des Artikels ist total irreführend. Das Problem sind hierbei Unternehmen, die mit teils abenteuerlichen Praktiken die Arbeitnehmer um den Mindestlohns um betrügen. Laut Überschrift sei aber der Mindestlohn das Problem, nicht besagte Unternehmen.