Wo ist Scarlett S.? Über einen Vater und seine verzweifelte Suche

Bielefeld | Verbrechen

Stand: 20.05.2024, 10:36 Uhr

Im September 2020 läuft die 26-jährige Scarlett S. aus Bad Lippspringe den Wanderweg Schluchtensteig im Schwarzwald. Fünf Etappen schafft sie ohne Probleme. Auf der sechsten und letzten Etappe verschwindet sie plötzlich spurlos. Warum ihr Vater die Suche nicht aufgibt.

Von Estella Mazur

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Der Fall

Ralf S. will wissen, was passiert ist. An diesem 10. September 2020, als seine Tochter Scarlett S. spurlos auf ihrer Wanderung im Schwarzwald verschwand. Polizei, Bergwacht und freiwillige Feuerwehr starteten damals eine groß angelegte Suchaktion. Hubschrauber, Hunde, Drohnen, alles wird mobilisiert. Erfolglos. Von der 26-Jährigen fehlt jede Spur. Eine Woche später stellt die Polizei die Suche ein, sie geht von einem Sturz aus. Vater Ralf S. und die Familie geben ihre Suche nicht auf. Bis heute. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte auf YouTube.

Immer wieder gibt es vereinzelte Spuren und Hinweise. 2021 führt zum Beispiel eine Spur auf einen Parkplatz. Er befindet sich etwa sieben Kilometer von Todtmoos entfernt, dem Start der sechsten Etappe. Eine privat organisierte Hundestaffel hatte die Witterung von Scarlett S. aufgenommen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Jahr vermisst wurde. Die Staatsanwaltschaft leitet ein Todesermittlungsverfahren ein, die Polizei geht dem Hinweis nach. Erneut ohne Erfolg. Im Februar 2023 stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren wieder ein. Aber Ralf S. sucht weiter. Lokalzeit.de hat mit ihm gesprochen.

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Leben mit der Ungewissheit

Lokalzeit: Herr S., Sie suchen Ihre Tochter seit vier Jahren sehr aktiv, auch über die Presse. Wie halten Sie das aus?

Ralf S.: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Solange sie nicht gefunden ist, höre ich nicht auf zu hoffen. Es gibt andere, lange ungeklärte Fälle, wo Vermisste erst nach 20 Jahren gefunden wurden. Das Schlimmste für mich wäre, bis an mein Lebensende keine Gewissheit zu haben. Deswegen ist aufgeben keine Option.

Ralf S. hat die Hoffnung nicht aufgegeben | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Wie würden Sie Ihre Tochter beschreiben?

Ralf S.: Optimistisch, lebensfroh, interessiert an der Welt und sehr tierlieb. In dem Jahr vor ihrem Verschwinden hat sie sogar begonnen, sich vegan zu ernähren. Das hat sie in zwei oder drei Tagen beschlossen und war da sehr konsequent. Ihr haben die Tiere so leidgetan.

Lokalzeit: Wie würden Sie ihre Beziehung zueinander beschreiben?

Ralf S.: Gut. Sie ist mein kleines Mädchen. Ich habe immer versucht, ihr alles zu ermöglichen, ihr zu helfen. Ich habe ihr geholfen, Schränke aufzubauen oder ein Katzennetz zu spannen. Sie hatte sich in ihrem Zimmer einen begehbaren Kleiderschrank gewünscht. Auch den habe ich gebaut. Das Zimmer hat sie noch heute bei uns im Haus. Sie musste sich nie Sorgen machen, egal was war. Wir hockten aber auch nicht jeden Tag aufeinander, das hätte sie nicht gewollt. Sie war schon autonom. Wir haben uns regelmäßig gesehen. Sie hat ja nicht weit weg gewohnt.

Lokalzeit: Sie sprechen über die Unabhängigkeit ihrer Tochter. Scarlett ist öfter alleine gereist. Wie war das für Sie?

Ralf S.: Ich habe mir nie viele Gedanken darüber gemacht. Das war ihr Ding. Scarlett ist zielstrebig und entschlossen. Wenn sie einmal etwas vorhatte, hat sie das auch durchgezogen. Sie hat alleine gewohnt, alles selbstständig gebucht und bezahlt. Wir haben uns deswegen nie Sorgen gemacht. Sie war überwiegend in asiatischen Ländern unterwegs und hat uns immer erzählt, wie nett und rücksichtsvoll die Menschen dort sind. Sie hat sich nie unsicher gefühlt. Ich war immer froh, wenn sie sich glücklich angehört hat.

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"Niemand hatte etwas von Scarlett gehört"

Lokalzeit: Wann fiel auf, dass Scarlett verschwunden ist?

Ralf S.: Am Freitag, den 11. September 2020, rief eine Freundin von Scarlett an. Scarlett wollte sie auf dem Rückweg vom Schluchtensteig in Mainz besuchen. Sie fragte, ob wir wüssten, warum Scarlett nicht käme. Wir haben alle versucht, sie an diesem Abend noch zu erreichen. Ohne Erfolg.

Lokalzeit: Was ging Ihnen an diesem Tag durch den Kopf?

Ralf S.: Erstmal noch gar nichts. Einen Tag keinen Kontakt zu jemandem zu haben, kann ja ganz natürliche Ursachen haben. Vielleicht ist ihr Akku leer, oder sie ist feiern. Aber es hatte niemand auch nur irgendetwas von Scarlett gehört. Meine Frau hat sie dann direkt am nächsten Morgen in Bad Lippspringe vermisst gemeldet. Die Beamten haben uns zum Glück direkt ernst genommen. Niemand hat uns gesagt, sie sei erwachsen und wir sollten einfach abwarten. Im Gegenteil, die Polizisten haben das direkt an die Behörden im Schwarzwald weitergeleitet.

Lokalzeit: Was haben Sie gemacht, nachdem Ihre Tochter als vermisst gemeldet wurde?

Ralf S.: Wir sind Sonntagfrüh direkt zum Schluchtensteig gefahren. Je näher wir dem Schwarzwald kamen, desto mehr habe ich mich gefragt: 'Wie willst du hier dein Kind finden?' Als wir ankamen, stand schon ein riesiges Aufgebot bereit, bestimmt 200 Menschen. Die gesamte Suche war schon organisiert. Aber wir waren vor Ort zur Untätigkeit verdammt. Wir durften nicht in die Nähe der Suchhunde. Als Blutsverwandte von Scarlett hätte unser Geruch sie irritiert, wie uns erklärt wurde.

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Warum der Vater nicht an einen Unfall glaubt

Lokalzeit: Was glauben Sie, was mit Ihrer Tochter passiert ist?

Ralf S.: Ich glaube, sie ist in ein Auto gestiegen. Das würde auch das spurlose Verschwinden erklären. Es ist doch merkwürdig: Niemand hat sie auf der zweiten Hälfte der sechsten Etappe des Schluchtensteigs wahrgenommen. Sie ist ein kleines Mädchen, der rote Rucksack wirkte sehr groß an ihr. Auf anderen Streckenabschnitten haben andere Wanderer sie immer wahrgenommen. Außerdem gibt es auf der Strecke Kameras an Häusern, auf keiner dieser Kameras war Scarlett zu sehen. Was bleibt noch übrig? Für mich nur ein Szenario. Jemand hat dort auf dem Parkplatz angehalten und sie vielleicht gefragt: ‚Willst du nicht abkürzen? Komm, ich nehme dich mit‘. Der Bus ist damals wegen einer Baustelle nicht gefahren.

Bis heute wird Scarlett S. gesucht | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Das heißt, Sie glauben nicht wie die Polizei an einen Unfall?

Ralf S.: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wir sind diesen Wanderweg mehrmals gelaufen. Im Grunde ist die sechste Etappe unspektakulär. Zumindest ab der zweiten Hälfte. Der Weg führt in die Nähe der Kleinstadt Wehr. Aus den typischen Wanderwegen werden hier eher breitere Forstwege. Wie soll sie da spurlos verschwinden? Scarlett hatte eine kurze Hose an, rechts und links des Weges sind vor allem Dornen und Dickicht. Da kommt man nicht gut durch, schon gar nicht mit kurzer Hose. Einen Unfall halte ich persönlich mittlerweile für sehr ausgeschlossen.

Lokalzeit: Könnte es sein, dass Scarlett untergetaucht ist und ein neues Leben begonnen hat?

Ralf S.: Wenn mir eine Option am besten gefallen würde, wäre es diese. Aber warum sollte sie das tun? Wir haben uns nicht zerstritten. Sie hatte unsere Unterstützung, in jeglicher Form. Sie hing an ihren Katzen. Sicher, Corona hat damals viele von uns belastet. Aber deshalb haut man doch nicht ab und lässt alles hinter sich.

Lokalzeit: Wie fühlt sich diese Ungewissheit an?

Ralf S.: Da gibt es nicht das eine Gefühl. Wenn ich abgelenkt bin, bestimmt es nicht jeden Gedanken meines Tages. Aber dann gibt es Momente der Ruhe. In denen ich in den Himmel schaue und mich frage: Siehst du gerade die gleichen Sterne wie ich? Diese Gedanken, die machen mich manchmal fertig. Deshalb mein dringender Appell: Wenn Sie einen Verdacht haben, Ihnen Personen aufgefallen sind, die sich damals merkwürdig verhalten haben oder im September 2020 im Schwarzwald unterwegs waren und es seitdem tun - bitte melden Sie sich unbedingt bei der Polizei.