"Die Beschäftigung mit Satanismus kann die Hemmschwelle zu töten herabsetzen"

Ennepe-Ruhr-Kreis | Verbrechen

Stand: 21.04.2023, 14:57 Uhr

Satanisten ermorden in Witten 2001 auf brutale Art einen Bekannten. Aber welche Rolle hat der okkulte Glaube tatsächlich gespielt? Und welche Sekten sind heute noch relevant? Sabine Riede von der Sekteninfo NRW gibt Antworten.

Von Stefan Weisemann

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Was 2001 geschah

Ein Eichensarg, Attrappen von Totenschädeln, umgedrehte Kreuze, an der Wand eine Todesliste, mehrere Messer, ein Zimmermannshammer. Und mittendrin: Eine brutal zugerichtete Leiche, getötet mit 66 Stich- und Schlagverletzungen. Diese Szene bietet sich Ermittlern im Juli 2001 in einer Dachgeschoss-Wohnung in Witten.

Schnell ist klar: Die Mörder sind die Bewohner der Wohnung: Das Ehepaar Manuela (22) und Daniel R. (25), die sich selbst als Satanisten bezeichnen. Ihr Opfer: Der 33-jährige Arbeitskollege von Daniel R.. Nach sechs Tagen auf der Flucht wird das Paar festgenommen. Den Mord geben beide zwar direkt zu, beteuern aber gleichzeitig ihre Unschuld. Angeblich hatte ihnen der Teufel den Mord befohlen.

Der Fall bestimmt wochenlang die Schlagzeilen. Und tut das später beim Prozess vor dem Bochumer Landgericht erneut. Mit Satansgruß, Grinsen und ausgestrecktem Mittelfinger inszeniert sich das Ehepaar. Manuela R. wird schließlich zu 13, Daniel R. zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Den ganzen Fall "Satansmord von Witten" gibt es bei "Lokalzeit MordOrte".

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Interview: Warum Sekten zum Töten verleiten können

Sabine Riede ist die Leiterin der Sekteninfo NRW in Essen. Sie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Sekten. Auch den "Satansmord von Witten" hat sie verfolgt.

Lokalzeit: Frau Riede, der Mordfall von Witten zeigt: Menschen können in einer Sekte so aufgehen, dass sie letztlich sogar töten. Wie kann so etwas passieren?

Sabine Riede: Die Beschäftigung mit Satanismus kann die Hemmschwelle zu töten herabsetzen. Außerdem ist im Mordfall von Witten durch ein psychiatrisches Gutachten geklärt worden, dass der Haupttäter unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung gelitten hat. Darüber hinaus mangelte es ihm auch an Mitgefühl und Gewissen. Das sind Persönlichkeitsmerkmale, die dazu beitragen, dass jemand fähig ist, einen Mord zu begehen.

Lokalzeit: Der Satanismus kann die Hemmschwelle zum Töten herabsetzen?

Riede: Die Ideologie kann als Rechtfertigung genutzt werden, ein Verbrechen zu begehen. Im Gedankengut des Satanismus steht nicht unbedingt die Verehrung der Figur Satan im Vordergrund, sondern der Gedanke der Selbstvergottung des Menschen. Das bedeutet: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, er wird verherrlicht, einschließlich seiner kriminellen Seiten. Ein Satanist, der diese Einstellung vertritt, glaubt, dass er als Mitglied einer Elite über den anderen Menschen steht und er willkürlich handeln kann, Gesetze würden für ihn nicht gelten.

Die Beschäftigung mit dem okkulten Glauben kann auch Selbsttötungsabsichten verstärken. Etwa im Fall einer Gruppe Jugendlicher aus Lüdinghausen. (Mehr zu diesem Fall gibt es hier.)

Sabine Riede, Leiterin der Sekteninfo NRW in Essen. | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Kann man den Satanismus wirklich als Sekte bezeichnen?

Riede: Wenn es sich um eine geschlossene Gruppe handelt ja, ansonsten eher nein. Meistens handelt es sich um ein Milieu, eine Szene, in der es keine klare Form der Zugehörigkeit gibt und unterschiedliche Vorstellungen, was Satanismus bedeutet. In den 90er Jahren haben junge Menschen nachts auf Friedhöfen schwarze Messen abgehalten. Im Extremfall wurden dabei Tiere getötet und anschließend das Tierblut getrunken. In der Regel waren das Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen, die sich in Cliquen zusammengefunden hatten. Es gab und gibt zwar auch Satanslogen, sie haben aber nur wenige Mitglieder. Grundsätzlich spielt der Satanismus heute lange nicht mehr so eine große Rolle, wie noch in den 90er Jahren.

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Sind Influencer und Psychogruppen die Sekten der Gegenwart?

Lokalzeit: Mit welchen Sekten oder Milieus haben Sie heute viel zu tun?

Riede: Heute beschäftigen wir uns vermehrt mit Coaching-Angeboten für junge Menschen im Internet. Die "Coaches" oder "Influencer" versprechen den Jugendlichen, dass sie schnell reich, wichtig und berühmt werden können. Diese Angebote weisen teilweise horrende Preise auf. Die jungen Menschen verschulden sich. Das ist leider auch eine Folge von Corona: Die Schulen und Unis waren geschlossen und die jungen Menschen sich selbst überlassen. Viele haben sich einsam und hilflos gefühlt. Sie haben dann im Internet gesucht und sind so auf unseriöse Angebote gestoßen. Reichsbürger und Verschwörungsgläubige sind der zweite Schwerpunkt unserer Arbeit. Außerdem haben wir viel mit so genannten "Psychogruppen" zu tun.

Lokalzeit: Was kann man sich unter diesen "Psychogruppen" vorstellen?

Riede: Das sind Gruppen, die ihren Mitgliedern versprechen, Ihnen auf dem Weg der Selbstoptimierung oder bei der Aufarbeitung der Kindheit zu helfen. Die Gruppen sind teilweise sehr klein: Es gibt etwa 30 Insider und ein paar weitere Sympathisanten, die sich zu Seminaren treffen. Betroffene aus diesem Bereich berichten uns oft auch über die Anwendung von Gewalt. Es ist schockierend, wie stark Menschen sich in solchen Gruppen unterordnen.

Lokalzeit: Wenn es dort so gewalttätig zugeht: Wer schließt sich denn dann freiwillig einer solchen Gruppe an?

Riede: Es sind oft Menschen, die sehr einsam sind und Freundschaften suchen. Zunächst empfindet man die Gruppe als harmlos. Die Gruppen haben zum Beispiel Internetseiten, die positiv und lebensbejahend klingen. Oder Bekannte laden zu einem "Schnupper-Wochenende" ein. Die ersten Abende sind unauffällig mit Reden, Essen und Musik machen. Es wird dann aber zum Beispiel schnell gesagt: Beim Zusammenleben gibt es Konflikte, weil wir alle Schatten aus unserer Kindheit mit uns herumtragen. Der Gründer der Gruppe könne dabei helfen, diese Schatten zu bearbeiten, weil er in seiner Entwicklung schon viel weiter sei. In den Seminaren werden die Teilnehmer dann teilweise bloß gestellt und gedemütigt. Auch Drogen sind häufig mit im Spiel. Schnell kommt den Mitgliedern dann das Leben außerhalb der Gruppe völlig fremd vor und sie klammern sich immer stärker an die Gruppe.

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Wie schafft man es aus einer Sekte heraus?

Lokalzeit: Wie schütze ich mich davor, in so eine Sekte zu rutschen?

Riede: Man sollte stark auf sein Bauchgefühl hören. Vielen kommt es von Anfang an komisch vor. Aber sie denken dann, dass sie zu verkopft sind und mutig sein sollten.

Lokalzeit: Gibt es denn einen Weg raus?

Riede: Ja, den gibt es. Es ist immer möglich, auszusteigen. In der Sekteninfo NRW sind wir geschult darin, vorsichtig über diese Themen zu reden. Und es ist erstaunlich, wie schnell Menschen mit Hilfe einer Beratung, die ihr Selbstwertgefühl aufbaut, wieder zu ihrem ursprünglichen Leben zurückfinden.

Lokalzeit: Können Familie und Freunde helfen?

Riede: Ja, wenn sie nicht abwertend reagieren. Familie und Freunde sollten besser erstmal fragen: Was vermisst du in deinem Leben? Was gibt dir die Sekte oder das Psychoseminar, das du sonst nicht hast? Dann kann man in Ruhe darüber reden.