Gewalt in Pflegefamilien: "In Jugendämtern gibt es oft sehr schwierige Zustände"

Wuppertal | Verbrechen

Stand: 14.08.2023, 17:02 Uhr

Immer wieder kommt es zu tragischen Vorfällen in Pflegefamilien. 2008 erschütterte ein solcher Fall die Stadt Wuppertal. Damals wurde ein fünfjähriges Mädchen von seiner Pflegemutter umgebracht. Unser Autor hat mit einer Expertin über Gewalt in Pflegefamilien und die Verantwortung der Jugendämter gesprochen.

Von Wolfram Lumpe

Talea ist in Wuppertal nicht mehr nur ein Mädchenname. In der Stadt ist er wohl für immer verbunden mit dem Tod eines fünfjährigen Pflegekindes. 2008 wird es umgebracht. Täterin ist die Pflegemutter. Das Landgericht verurteilt sie zu acht Jahren Haft, wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Motiv: Überforderung.

Talea aus Wuppertal: Pflegemutter tötet Kind

Der Körper des Kindes zeigte bei der Obduktion Hämatome, im Urteil gehen die Richter von schweren Misshandlungen aus. Die Folge der WDR-Youtube-Serie MordOrte analysiert den Fall detailliert.

Lokalzeit-Autor Wolfram Lumpe spricht mit der Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisches Land, Birgit Köppe-Gaisendrees, darüber, welche Herausforderungen sie für Pflegefamilien sieht.

In der Kinderschutzambulanz werden pro Jahr über 400 Kinder betreut oder stationär aufgenommen, die sexuelle Gewalt, Misshandlungen, Vernachlässigung oder andere Formen von Gewalt erleben mussten. Darunter sind auch immer wieder Pflegekinder.

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Pflegekind aufnehmen: Was muss man beachten?

Lokalzeit: Eigentlich denkt man ja, Menschen, die ein Pflegekind aufnehmen, die möchten diesem Kind helfen, es schützen. Ist das so einfach?

Birgit Köppe-Gaisendrees: Wenn ich ein Pflegekind aufnehme, muss ich damit rechnen, dass dieses Kind schon im Vorfeld geschädigt worden ist. Wir sehen Pflegefamilien, die Kinder aufnehmen, die schon vorher in drei oder vier anderen Pflegefamilien gewesen sind. Und dort, wie man dann so sagt, "nicht mehr tragbar" gewesen sind. Wir fragen dann: Wie können Pflegeeltern unterstützt und geschult werden, um mit all den sicherlich auch herausfordernden Verhaltensweisen von Kindern umzugehen.

Birgit Köppe-Gaisendrees, Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisches Land | Bildquelle: Birgit Köppe-Gaisendrees

Lokalzeit: Also reicht die bloße Bereitschaft, ein Pflegekind aufzunehmen, nicht aus?

Köppe-Gaisendrees: Es gibt Pflegeeltern, die sicherlich in guter Absicht handeln, aber sich im Vorfeld nicht fragen: Was bedeutet das eigentlich, wenn ich das tue? Ein Pflegekind ist eben nicht nur ein armes, trauriges Kind. Es kann auch das Kind sein, das beispielsweise sehr aggressive Verhaltensweisen zeigt. Das kann ein Kind sein, das sich nicht gut entwickelt, das von anderen Kindern nicht gut integriert wird. Und dann gibt es auch Pflegeeltern, die in ihrer eigenen Beziehung belastet sind. Dort gibt es auf der Elternebene Konflikte.

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Sind die Jugendämter überfordert?

Lokalzeit: Lassen sich Pflegeeltern denn auf die Hilfe aus der Kinderschutzambulanz ein?

Köppe-Gaisendrees: Im Grundsatz schon. Wir sehen auch Pflegefamilien, die erst mal alles abwiegeln. Die sagen, wir haben überhaupt kein Problem. Sie möchten eigentlich nicht, dass man ihnen ein bisschen in die Karten guckt. Und wir sehen hier schon auch Kinder, die in Pflegefamilien Gewalt oder eben auch sexuelle Gewalt erleben.

Lokalzeit: Eigentlich sollten die Jugendämter die Situation von Pflegekindern im Blick haben. Deren Arbeit steht nach Fällen wie dem von Talea fast jedes Mal heftig in der Kritik. Von Überforderung der Ämter ist dann die Rede und von mangelnder Kontrolle. Was sind Ihre Erfahrungen?

Köppe-Gaisendrees: Der Gesetzgeber beschreibt sehr einheitlich, was Jugendämter tun müssen, wenn Meldungen auf eine Kindeswohlgefährdung kommen. Gleichwohl muss man natürlich schon feststellen, dass es nicht überall gleich praktiziert wird. Es gibt Bemühungen, Mitarbeiter zu schulen, um letztendlich Risikofaktoren erkennen zu können. Aus der Praxis kann ich aber auch sagen, dass es in den Jugendämtern oft sehr schwierige Zustände gibt, weil beispielsweise Stellen oft nicht besetzt werden. Somit muss die Arbeit, die sich auf mehrere Schultern verteilen soll, teils von wenigen Leuten übernommen werden. Das ist sicherlich etwas, was man kritisch sehen muss.

Lokalzeit: Die Kinderschutzambulanz bietet ein spezielles Coaching für Pflegeeltern an. Soll damit verhindert werden, dass es überhaupt so weit kommt?

Köppe-Gaisendrees: Unterstützung zu suchen, ist für viele wie ein Eingeständnis. Sie haben das Gefühl, zu versagen. Deshalb sehen wir das erstmal als ein Angebot. Es soll Eltern die Möglichkeit geben, nach Hilfe zu fragen. Oft erleben wir Pflegeeltern zu Beginn des Coachings an einem Punkt, an dem sie nicht mehr können und das Kind abgeben möchten. Dann wollen wir verstehen, was den Alltag mit den Kindern schwierig macht. Wir bemühen uns in den Coachings um eine Übersetzung zwischen Pflegeeltern und Kind: Warum verhält sich das Pflegekind so? Es ist natürlich schön, wenn sich das Problem daraufhin auflöst.

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Ist Geld für viele die einzige Motivation?

Lokalzeit: Es gibt die Bereitschaftspflege von Kindern für akute Notfälle und Langzeitpflegeplätze. Familien, die sich für die Bereitschaftspflege bewerben, sollen angeblich nicht so genau unter die Lupe genommen werden wie mögliche Langzeit-Pflegeeltern. Im Wuppertaler Fall Talea war es ja eine solche Bereitschaftspflegemutter, die für den gewaltsamen Tod des Kindes verurteilt wurde. Liegen da nicht immer noch Fehler im System?

Köppe-Gaisendrees: Wir brauchen Pflegefamilien, wir finden aber nicht genug. Und die stationären Plätze für Kinder sind sehr begrenzt. Man findet heute also sehr schlecht einen Platz, wenn Kinder aus notwendigen Gründen untergebracht werden müssen. Und Bereitschaftspflege ist meiner Meinung nach eine Regelung, über die man kritisch diskutieren muss. Denn wir sehen kleine Kinder, die dann teils zwei Jahre in der Bereitschaftspflege sind. Das hat verschiedene Gründe: etwa, weil das Gerichtsverfahren nicht abgeschlossen ist, weil ein Gutachten lange dauert.

Lokalzeit: Aber wird genügend vorab kontrolliert oder nicht?

Köppe-Gaisendrees: Ich glaube, auch hier gibt es Unterschiede. Es gibt weiterhin Jugendämter, die prüfen: Wer ist diese Familie, die sich für Bereitschaftspflege bewirbt? Aber ich glaube auch, dass aufgrund der Not nicht in jedem Jugendamt genau genug hingeguckt wird.

Lokalzeit: Oft steht der Vorwurf im Raum, Familien würden Pflegekinder nur aufnehmen, weil es dafür Geld gibt - für mehr Pflegekinder dann noch mehr Geld. Was sagen Sie dazu?

Köppe-Gaisendrees: In manchen Fällen muss man schon die Frage nach dem finanziellen Profit stellen. Ein Beispiel: Eine Familie hatte acht Pflegekinder aufgenommen. Und wir haben erlebt, dass sie alle sehr detailliert erzählen konnten, wer welche Pflichten im Haushalt hat. Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Kinder Pflichten im Haushalt übernehmen. Aber da war es deutlich zu viel für das Alter der Kinder. Und dann musste man natürlich irgendwann auch mal die unbequeme Frage stellen: Geht es möglicherweise auch um finanzielle Interessen? Damit möchte ich aber keinesfalls alle Pflegefamilien über einen Kamm scheren.