Sexualisierte Gewalt im Netz: Wie man Kinder auf das Internet vorbereiten kann

Städteregion Aachen | Verbrechen

Stand: 16.07.2023, 11:13 Uhr

Christian L. schreibt unwissentlich eine 12-Jährige bei Facebook an. Die Eltern des Mädchens glauben, er wäre pädophil. Am Ende ist er tot. Das wirft die Frage auf: Wie wichtig ist Medienkompetenz bei Eltern? Und wie können Eltern ihre Kinder auf den digitalen Raum vorbereiten? Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation Innocence in Danger gibt Antworten.

Von Hanna Makowka

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Was 2015 geschah

Der 29-jährige Christian L. aus Eschweiler ist auf der Suche nach einer Freundin. Weil er schüchtern ist, nutzt er das Internet. Er schreibt unwissentlich ein 12-jähriges Mädchen an. Wenig später wird er dafür ermordet.

Der junge Mann sucht eine Beziehung zu einer erwachsenen Frau. Dass hinter dem Facebook-Profil einer jungen Frau ein Kind steckt, ahnt er nicht. Die Eltern des Mädchens hatten den Account für ihre 12-jährige Tochter erstellt und das Alter auf 22 gesetzt.

Der Vater des Mädchens liest die Nachrichten und hält Christian fälschlicherweise für pädophil. Ein Unbekannter hatte seine Tochter wenige Monate zuvor im Internet massiv unter Druck gesetzt, Nacktfotos zu verschicken. Damals hatte die Polizei den Täter nicht ermitteln können. Deshalb will der Vater diesmal selbst handeln.

Den ganzen Fall "Tödlicher Irrtum: Eltern suchen Rache wegen angeblicher Nacktfotos" gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

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Interview: So groß ist das Problem sexualisierter Gewalt im Internet

Julia von Weiler ist Psychologin und arbeitet bei Innocence in Danger, einer gemeinnützigen Kinderschutzorganisation. Sie beschäftigt sich seit 1991 mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und seit 2003 mit sexualisierter Gewalt im digitalen Raum – einem Thema, das in den vergangenen Jahrzehnten immer wichtiger geworden ist.

Lokalzeit: Frau von Weiler, wie viele Kinder und Jugendliche sind von sexualisierter Gewalt im Internet betroffen?

Julia von Weiler: Also, wenn man sich die Lebenserfahrung der Jugendlichen anhört, dann zieht einem das die Schuhe aus. Wenn ich in meinen Jugendgruppen frage, wer jemanden kennt, der oder die schon mal ein Penisbild bekommen hat, dann gehen alle Hände hoch. Das heißt, mittelbar betroffen sind hundert Prozent, unmittelbar gehen wir von etwa 75 Prozent aus.

Lokalzeit: Wie gehen die Jugendlichen damit um?

von Weiler: Wenn wir darüber sprechen, was der Unterschied zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Gewalt ist, und wir über sexistische Sprüche reden, dann sagen Jugendliche nicht selten: "Ach echt? Das ist aber doch total normal." Es gibt so eine resignierte Abstumpfung und das macht es dann auch schwer, die eigenen Grenzen zu verteidigen, weil man das Gefühl hat: Wenn ich die verteidige, dann müsste ich sie die ganze Zeit verteidigen.

Julia von Weiler | Bildquelle: Julia von Weiler
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Wie man Kinder auf den Umgang mit dem Internet vorbereiten kann

Lokalzeit: Was sollten Eltern mit Kindern und Jugendlichen besprechen, bevor sie Zugang zum digitalen Raum haben?

von Weiler: Wir verwechseln den Besitz eines eigenen Smartphones und den unkontrollierten Zugang ins Internet oft. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Man kann mit den Kindern üben, sich im Netz zu bewegen, bevor sie ein eigenes Smartphone besitzen. Das beginnt im besten Fall im Kindergartenalter. Wenn die Kinder älter werden, dann kann ich mit ihnen besprechen, dass sie den Bildschirm ausmachen, wenn sie auf einen Link klicken und etwas Ekliges oder Verstörendes sehen. Oder, dass sie zu den Eltern oder anderen Vertrauenspersonen kommen.

Lokalzeit: Und was sagt man Kindern und Jugendlichen am besten?

von Weiler: Erstens: Denk nach, bevor du etwas sendest. Aber das ist eben viel leichter gesagt als getan. Also bespreche ich mit ihnen, was sie tun können, um Luft zu holen, nachzudenken und erst dann zu senden. Außerdem bespreche ich mit ihnen: Was mache ich, wenn ich manchmal vielleicht doch nicht so gut nachgedacht und etwas verschickt habe?

Der zweite Aspekt: Achte auf deine Wahrnehmung, vertrau auf dein Gefühl. Das ist im Digitalen kompliziert und oft merke ich erst, dass was schiefläuft, wenn es schon ziemlich schiefgelaufen ist und zum Beispiel das intime Bild versendet wurde. Deswegen ist es wichtig zu wissen: Wo sind meine Grenzen? Und vor allem ist wichtig zu wissen: An wen kann ich mich wenden, um Hilfe und Unterstützung zu kriegen? Wichtig ist natürlich, das immer wieder anzusprechen. Man müsste eigentlich eine Mischung aus Aufklärungsangeboten schaffen, teils zum Beispiel durch den Kindergarten und die Schule und teils durch die Vermittlung über die Eltern.

Lokalzeit: Welche Rolle spielt die Medienkompetenz der Eltern dabei?

von Weiler: Da sprechen Sie die größte Baustelle an, die wir haben. Jetzt wächst ja eine Generation Eltern heran, die zumindest eigene Erfahrungen im digitalen Raum gemacht hat. Aber es ist wirklich kompliziert, Eltern zu erreichen. Die, die zu so einem Elternabend kommen, sind die Eltern, die sich sowieso schon engagieren oder ein Bewusstsein dafür haben. Die anderen kommen eben nicht. Manche Eltern sind auch überfordert, andere sind bequem oder naiv und sagen: "Aber mein Kind kennt sich damit doch viel besser aus, als ich."

Eltern verwechseln "Wischkompetenz" mit "Lebenskompetenz". Julia von Weiler, Innocence in Danger

Heißt: Nur, weil Kinder auf dem Handy von links nach rechts wischen können, bedeutet das nicht, dass sie begreifen, was das für Konsequenzen haben kann. Deswegen finde ich "Wir müssen die Kinder medienkompetenter machen" auch viel zu kurz gedacht.

Lokalzeit: Gibt es Warnzeichen, an denen man erkennen kann, dass ein Chat in die falsche Richtung läuft?

von Weiler: Wenn das Interesse rein sexuell ist. Wenn sehr viel Druck aufgebaut wird und ich das Gefühl habe, es geht immer in dieselbe Richtung. Täter versuchen oft, gesetzte Grenzen immer wieder einzureißen. Wenn einem das zu viel wird, wenn einen das verstört oder stresst, dann verschafft man sich am besten erstmal Luft und eine Pause. Man könnte sowas schreiben wie: Ich muss jetzt meine Hausaufgaben machen. Meine Eltern haben mich zum Essen gerufen. Raum und Zeit verschaffen – das ist einfach total wichtig und zugleich wahnsinnig schwer.

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Wie helfe ich Kindern, die Missbrauch im digitalen Raum erlebt haben?

Lokalzeit: Was mache ich, wenn das Kind oder der Jugendliche sexualisierte Gewalt im Internet erlebt hat?

von Weiler: Eine Strafanzeige ist immer gut. Dafür gehen Sie bitte immer zum "Kriminalkommissariat für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung". Das gibt es nicht in jeder Wache, aber in jeder Region. Das finden Sie auf jeden Fall online oder Sie fragen bei der Polizeiwache vor Ort danach. Melden Sie außerdem den Nutzer beim Provider. Das kann man aktiv tun, um einen Täter oder eine Täterin beim Weitermachen zu stören.

Lokalzeit: Und wie kann ich das Kind oder den Jugendlichen persönlich unterstützen?

von Weiler: Als Erstes gilt: Was braucht das betroffene Kind jetzt? Hat es Angst, dass Chatverläufe oder gesendete Fotos veröffentlicht werden? Diese Gefahr besteht. Die Frage ist, wie geht man damit um? Am wichtigsten ist uns die Botschaft: Bleib mit deiner Sorge nicht allein. Vertrau dich jemandem an, der oder die dir helfen kann – Eltern, Lehrkräfte, Schulsozialarbeit oder auch beim Hilfetelefon.

Ein weiterer Tipp ist: Wenn du ein Nacktfoto verschickt hast und Angst hast, dass es verbreitet wird, dann stell dich zum Beispiel in der Schule an die Tafel und sage: "Ich habe einem Typen ein Foto von mir geschickt und wenn ihr das bekommen habt, dann möchte ich, dass ihr das löscht." Das klingt schwer und das ist es auch. Aber so kommt man im besten Fall vor die Welle. Am liebsten wollen wir den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass es einfach vorbeizieht. Aber so funktioniert das meistens nicht.

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"Provider in die Verantwortung nehmen"

Lokalzeit: Was müsste sich Ihrer Meinung nach verändern, um Kinder und Jugendliche im Internet besser zu schützen?

von Weiler: Aufklärungsprogramme sollten verankert werden in Kindergärten, Schulen oder auch in Sportvereinen. Und in Deutschland ist das therapeutische Angebot für traumatisierte Kinder löchrig, Beratungsangebote sind nicht nachhaltig finanziert. Das muss die Politik besser hinkriegen.

Außerdem müssen die Provider mehr in die Verantwortung kommen. Wenn sich ihr Angebot auch an Kinder und Jugendliche richtet, dann müssen sie dafür sorgen, dass es so sicher wie möglich ist. Das heißt, sie müssen eine Risikoanalyse machen und schauen, wo Kinder und Jugendliche Gefahr laufen, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Da gibt es jetzt ein EU-Gesetzesvorhaben, das begrüßen wir sehr.