Walter G.: Mentor, Vertrauter, Täter
Zwischen 2006 und 2014 missbrauchte der 47-jährige Walter G. zahlreiche Jugendliche. G. war ein scheinbar hilfsbereiter Nachbar, der vorgab, sich um sie zu kümmern. In seinem Mobilheim auf einem Campingplatz in Marienheide verging er sich an den Jungen, die er oft zu sich einlud.
Walter G. war für sie aber mehr als nur ein Nachbar. Er war ein Mentor, eine Vertrauensperson für viele Jugendliche. Die Teenager fühlten sie sich bei ihm frei und hatten Spaß. Doch Walter G. trat den Jugendlichen gegenüber auch äußerst manipulativ auf. Nach und nach vergriff sich der frühere Schlosser an ihnen und drohte ihnen und ihren Familien mit Gewalt, sollte jemand von den Übergriffen erfahren.
Doch eines seiner Opfer, Timo K., erstattet mit 18 Jahren Anzeige. Daraufhin versucht Walter G. ihn zu töten, um die Ermittlungen zu stoppen. Er entführt Timo K., zwingt ihn einen Abschiedsbrief zu schreiben und stößt ihn von der Staumauer in Marienheide. Es soll wie ein Suizid aussehen. Doch der Plan scheitert. Walter G. erhält im späteren Prozess die härteste Strafe, die es in Deutschland gibt. Den kompletten Fall gibt es hier beim YouTube-Format Lokalzeit MordOrte:
WDR-Autor Hamzi Ismail hat sich aber nicht nur für unser Doku-Format "Lokalzeit MordOrte" näher mit dem Fall beschäftigt. Für Lokalzeit.de hat er mit dem Rechtspsychologen Dr. Jörn Meyer über das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen gesprochen.
Interview: Warum es auch "etwas zu verlieren" gab
Lokalzeit: Walter G. war auf der einen Seite lieb und hilfsbereit zu den Jungen, auf der anderen Seite übte er systematisch sexualisierte Gewalt gegen die Kinder und Jugendlichen aus. Wie passt das zusammen?
Dr. Jörn Meyer: Das mag auf den ersten Blick widersprüchlich wirken. Aus der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung im Rahmen des Strafverfahrens lässt sich entnehmen, dass Walter G. eine auffällige Persönlichkeitsstruktur aufwies. Das liebe und unterstützende Verhalten war im Prinzip nur Mittel zum Zweck, sich das Vertrauen der Kinder zu erschleichen und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Die Betroffenen kamen aus schwierigen Verhältnissen, hatten Probleme in der Schule und nur wenig Selbstbewusstsein. Walter G. war ihr Helfer und Mentor. Das machte sie abhängig von ihm. Und das nutzte er bewusst aus, um die Kinder und Jugendlichen sexuell zu missbrauchen.
Lokalzeit: Wie aber lässt es sich aus Opfersicht erklären, dass sich die Jugendlichen zum Teil, trotz des Missbrauchs, nicht von Walter G. und dem Mobilheim ferngehalten haben?
Meyer: Gerade bei chronischem Missbrauch, der also immer wieder passiert, gibt es vorher meist eine starke Beziehung zwischen Opfer und Täter. Die ist nicht nur von negativen, sondern auch von positiven Erlebnissen und Gefühlen geprägt. Das waren hier die Ausflüge, das gemeinsame "Abhängen", aber auch die Zugehörigkeit zur Gruppe mit den anderen Jugendlichen. Es gibt also auch was zu verlieren. Und dann mag es auch eine Art von kognitiver Verzerrung sein, diese Dinge gegeneinander abzuwägen.
Warum hielten die Kinder und Jugendlichen zu ihm?
Lokalzeit: Warum hatten die Jugendlichen zu viel Angst vor ihrem Peiniger, um sich ihren Eltern oder wem anderen anzuvertrauen?
Meyer: Walter G. hatte viele Methoden eingesetzt, um sich die Zugehörigkeit der Kinder zu versichern. Er war auch flexibel in seinem Vorgehen, Druck und Macht auf sie auszuüben. Walter G.s Kontakt zu ihren Eltern oder deren Vorgesetzten auf der Arbeit hat den Umgang mit ihm für die Jugendlichen vielleicht auf gewisse Weise gerechtfertigt. Es demonstriert aber auch noch einmal das Machtgefälle zwischen den Jugendlichen und Walter G. Die Kinder fühlten sich dadurch wahrscheinlich ohnmächtig. Zudem hat er ihnen mit schlimmen Folgen gedroht, wenn sie sich jemandem anvertrauen. Er behauptete Kontakte zum Geheimdienst, zur Polizei und zur Staatsanwaltschaft zu haben. Das machte ihn in ihren Augen unantastbar, zu jemandem, dem man sich besser nicht widersetzt.
Lokalzeit: Doch selbst als Walter G.´s Missbrauch aufflog, waren viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen in den polizeilichen Vernehmungen zurückhaltend, stritten den sexuellen Missbrauch zum Teil sogar ab. Wie lässt sich diese Loyalität zu diesem Zeitpunkt erklären?
Meyer: Ich würde es nicht Loyalität nennen, sondern es war vermutlich ein Stück weit Scham und eigenes Schuldgefühl. Das spüren viele Kinder nach dem sexuellen Missbrauch. In diesem Fall kam hinzu, dass ihr Peiniger ein Bild von absoluter Macht von sich aufgebaut hatte, durch seine angeblichen Kontakte zum Geheimdienst und den Ermittlungsbehörden. Da mag auch ein Stück weit Angst eine Rolle gespielt haben: Was passiert, wenn Walter G. doch nicht ins Gefängnis kommt? Oder was passiert, wenn er wieder entlassen wird - tut er mir dann etwas an?
Die Fassade bröckelt
Lokalzeit: Dieses Bild über Walter G. änderte sich später. Vor Gericht haben viele der betroffenen Kinder und Jugendlichen die sexualisierte Gewalt an sich dann doch offengelegt und sich mitgeteilt. Was war jetzt anders?
Meyer: Aus psychologischen Studien wissen wir, dass verschiedene Faktoren notwendig sind, damit Kinder sich äußern können. Zum Beispiel zeitlicher Abstand, eine räumliche Trennung, aber vor allem auch eine psychologische Trennung zwischen Opfer und Täter. Walter G. saß seit dem versuchten Mord an Timo K. in Untersuchungshaft. Und damit wurde wahrscheinlich auch seine Allmacht-Stellung aufgebrochen. Für die Jugendlichen wurde klar, dass Walter G. nicht so gute Kontakte hat, wie er immer behauptet hatte. Das hat ihnen möglicherweise die Angst, den Schrecken, vor ihrem Peiniger genommen.
Lokalzeit: Wie sollte man mit Opfern sexualisierter Gewalt umgehen, wie kann man ihnen helfen?
Meyer: In diesen Fällen sollten Sie Kindern und Jugendlichen erstmal vermitteln, dass es sexuellen Missbrauch gibt, an dem die Betroffenen keine Schuld tragen. Sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern oder Jugendlichen sind nicht zu tolerieren, egal in welchem Kontext.
Wichtig ist auch, ihnen klarzumachen, dass sie sich nicht schämen oder schuldig fühlen müssen, sondern es die Verantwortung des Erwachsenen ist. Und dann geht es natürlich darum, Kindern zuzuhören, wenn sie sich äußern. Ihnen ein offenes Ohr zu schenken und anschließend einen der offiziellen Meldewege zu nutzen.
Wo gibt es Hilfe?
Lokalzeit: Wohin können sich betroffene Kinder und Jugendlichen, aber auch Menschen, die von sexualisierter Gewalt mitbekommen, wenden?
Meyer: Sie können sich zum Beispiel an das Jugendamt oder an die Polizei wenden. Das geht auch erstmal anonym. Ansonsten gibt es Fachstellen für sexualisierte Gewalt, die mittlerweile in den meisten Städten und Gemeinden aufgebaut wurden, wie etwa die Kinderschutzambulanzen. Es gibt aber auch telefonische Hotlines, wo man Hilfe bekommt, zum Beispiel unter der kostenfreien Nummer: 0800 22 55 530.