Der Triangel-Griff eines Krankenbettes

Kriminalfälle aus NRW: Warum eine Tochter ihre pflegebedürftige Mutter tötete

Rhein-Sieg-Kreis | Verbrechen

Stand: 09.08.2024, 07:43 Uhr

Eine 22-Jährige erstickt mit einem Kissen ihre pflegebedürftige Mutter. Zuvor pflegte die junge Frau aus Königswinter sie jahrelang zu Hause. Wie kann Gewalt aus Überforderung entstehen? Ein Interview.

Von Sophia Klein

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Tochter erstickt eigene Mutter

Nach dem Fund einer Frauenleiche in einem Kofferraum in Königswinter rückt die 22-jährige Tochter des Opfers in den Fokus der Ermittlungen. Schnell wird klar: Clara K. (Name von der Redaktion geändert) hat ihre 48-jährige todkranke und bettlägerige Mutter in ihrem Bett und im Beisein einer Freundin getötet. Auslöser war ein stundenlanger Streit, der eskaliert ist.

Im September 2021 wird die junge Frau wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Kammer geht von einem minderschweren Fall aus. Die Begründung ist unter anderem, dass sie sich in einer toxischen Beziehung mit ihrer Mutter befunden habe, aus der sie keinen Ausweg wusste. Laut Gericht habe Clara K. seit der Kindheit unter dem belastenden Verhältnis mit ihrer Mutter gelitten, das "vor allem durch egoistisches, rücksichtsloses und demütigendes Verhalten ihrer Mutter ihr gegenüber geprägt war". Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Nady Mirian erklärt im Gespräch, was Überforderung in jungen Jahren in Menschen auslösen kann.

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Negativer Stress

Lokalzeit: Wie wirken sich ständige Überforderung und Stress auf Kinder und Jugendliche aus?

Nady Mirian: Ständige Überforderung führt zu Disstress, also negativem Stress, der dauerhafte Anspannung und die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol verursacht. Diese Hormone bereiten den Körper auf eine "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion vor, was in akuten Situationen hilfreich sein kann, aber bei chronischer Belastung schädlich ist. Besonders häufig treten psychologische Folgen wie Angstzustände und Depressionen infolge des empfundenen chronischen Stresses auf. Ebenso häufig sind ein geringes Selbstwertgefühl und das Gefühl, den Erwartungen anderer Menschen nicht gerecht werden zu können. Die Betroffenen lernen kaum, bei sich selbst zu sein, das heißt, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, weil sie immer auf das Außen fokussiert sind.

Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Dr. Nady Mirian

Dr. Nady Mirian ist Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche

Lokalzeit: Welche Faktoren könnten Ihrer Einschätzung nach dazu beigetragen haben, dass die junge Frau aus unserem Fall am Ende ihre eigene Mutter getötet hat?

Mirian: Wir können festhalten, dass sie zahlreichen Risikofaktoren ausgesetzt war: Zum einen hat sie Parentifizierung erfahren – eine Umkehr der sozialen Rollen zwischen Elternteilen und ihrem Kind. Sie musste die Verantwortung für die Pflege ihrer Mutter übernehmen. Diese Verantwortung könnte bedeutet haben, dass sie frühzeitig erwachsen werden musste und möglicherweise die eigenen Bedürfnisse hintenanstellte. Darüber hinaus erlebte sie emotionalen und psychischen Missbrauch, was sich oft durch kontrollierendes Verhalten, Manipulation oder verbale Übergriffe manifestiert. Dann hatte sie – sofern wir das wissen – keine stabilen und gesunden Beziehungen, vor allem nicht zu Erwachsenen. Niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Zusätzlich hatte sie außerhalb von zuhause eine Peergroup, die Drogen konsumiert hat. Daher war für sie eine weitere Bewältigungsstrategie, ihre Gefühle mit Drogen zu sedieren.

Lokalzeit: Welche Faktoren begünstigen, dass Kinder und Jugendliche zu Tätern werden?

Mirian: Man kann psychologische und soziologische Theorien heranziehen, um kriminelles Verhalten ungefähr zu erklären. Dabei ist wichtig zu betonen, dass es keinen typischen Täter oder keine typische Täterin gibt. So linear funktioniert die menschliche Psyche nicht. Zum Beispiel gibt es psychologisch die Frustrations-Aggressions-Hypothese, die annimmt, dass man durch Frustration aggressives Verhalten zeigt.

Lokalzeit: Und was bedeutet das genau?

Mirian: Wenn Frustration nicht direkt erleichtert werden kann, kann es zu einem Anstieg der Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten führen, wie physischen Angriffen oder verbalen Ausbrüchen. Die kognitiven Theorien erklären kriminelles Verhalten durch fehlerhafte kognitive Prozesse wie Bagatellisierung oder Rationalisierung, wobei Täter verzerrte Denkweisen entwickeln, die ihre Handlungen als akzeptabel einschätzen. Ein für mich wichtiger Ansatz ist die soziologische Theorie der differentiellen Assoziation von Edwin Sutherland, bei der kriminelles Verhalten durch den Umgang mit anderen, die bereits kriminell sind, erlernt wird. Das soziale Umfeld spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Kriminalität.

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Alles wird schwarz

Lokalzeit: Welchen Einfluss hat die Gesellschaft in Fällen wie diesen?

Mirian: Die Gesellschaft als Konstrukt hat den größten Einfluss dahingehend, da wir nicht über Tabuthemen sprechen. Und wenn über diese Themen gesprochen wird, dann häufig mit Schuldzuweisungen wie "Täter schlecht", "Opfer gut" oder "Eltern sind schuld". Auch der Bedarf nach mehr psychologischer und pädagogischer Unterstützung in Schulen wird selten thematisiert. Eine einzelne Lehrkraft kann emotional nicht für eine ganze Klasse verfügbar sein. Es wird nicht darüber gesprochen, wie es den Kindern zu Hause geht, was zu Hause passiert. Und wenn man nicht darüber redet, dann verändert sich auch nichts. Das gilt eben auch für Kinder, die nicht in den Sozialisationsinstanzen aufgeklärt werden und die dann glauben, es sei normal, dass sie rund um die Uhr ihre Eltern pflegen.

Hilfsangebote für pflegende Angehörige

Pflegt ihr selbst jemanden und benötigt Hilfe oder kennt ihr eine Person, bei der ihr das Gefühl habt, dass sie mit der Pflege überfordert ist? Hier gibt es Hilfsangebote, auch speziell für Kinder und Jugendliche:

Lokalzeit: Woran zeigt sich, dass man die eigene Aggression nicht unter Kontrolle hat und eskalieren könnte?

Mirian: Mir wurde von Klienten beschrieben, dass intensive Wut sich sehr häufig im Magen und in der Brust befindet. Dieses körperliche Gefühl muss raus. Plötzlich sehen sie nur noch schwarz – dieser Blackout-Moment. Sie streiten, werfen Dinge durch die Gegend und knallen Türen. Ein weiteres Zeichen ist, dass man sehr schnell in Konflikte gerät. Wenn man beleidigt wird, beleidigt man sofort zurück. Menschen, die ihre Gefühle nicht aushalten können, schieben diese oft nach außen, weil sie denken, dass es ihnen darüber besser gehen wird und die Gefühle verschwinden. Das ist eine Bewältigungsstrategie für sie. Viele konsumieren auch Drogen oder Alkohol, um ihre eigenen Gefühle zu sedieren. Auch Konsumverhalten ist oft ein Hilfeschrei. 

Lokalzeit: Was kann in solchen Situationen helfen? Wie kann man aus dieser Wut und Verzweiflung herauskommen?

Mirian: Es ist zunächst einmal sehr wichtig, als betroffene Person die Gefühle überhaupt wahrzunehmen, also ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Ohne Bewusstsein kann man auch nicht unterstützen. Hilfe zur Selbsthilfe ist hier der Punkt. Oft muss man selbst die Erfahrung machen, dass Gefühle wie Wut und Trauer okay sind. Man muss nur erkennen, wann es schädlich wird und das Umfeld belastet, weil man sich streitet, Probleme in der Schule bekommt oder Ähnliches. Man sollte sich psychologische Unterstützung suchen und gemeinsam daran arbeiten.