Der ehemalige Arbeitsplatz von Martin Porwoll (51) ist ein Altbautraum mit rosa Fassade und weißem Stuck. Mitten in der Bottroper Innenstadt steht das Haus, in dem damals die „Alte Apotheke“ zuhause ist. Von 2014 bis 2016 arbeitet Porwoll dort als kaufmännischer Leiter. Seinen Chef Peter S. kennt er seit Kindertagen. Der Apotheker zählt zu dieser Zeit zur Stadtprominenz und gilt als Wohltäter und Gönner. Doch dann wird sein wahres Gesicht enthüllt. Mit der Hilfe von Martin Porwoll kommt heraus: Um sich selbst zu bereichern, setzte Peter S. das Leben von Krebspatienten aufs Spiel.
Wie ein Gericht 2018 feststellte, panschte er jahrelang Krebsmedikamente. Gab weniger Wirkstoffe als verschrieben in Infusionsbeutel und Spritzen für Chemotherapien. Trotzdem rechnete er voll bei den Krankenkassen ab. Es wird von rund 3800 betroffenen Patienten und Patientinnen ausgegangen. Wer wie viel oder wie wenig Wirkstoff erhalten hat, konnte nie nachgewiesen werden. Darum wurde der Fall als Wirtschaftsverbrechen verhandelt. Der Essener Staatsanwaltschaft zufolge beläuft sich der Schaden für die Kassen auf mehr als 50 Millionen Euro. Peter S. wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt und erhielt ein lebenslanges Berufsverbot. Porwoll sammelte damals heimlich entscheidende Beweise und stellte Anzeige gegen seinen Chef.
Lokalzeit: Wann haben Sie sich zum ersten Mal gedacht: Hier läuft irgendwas schief, ich muss dem nachgehen?
Martin Porwoll: Das war nicht lang, nachdem ich in der Apotheke angefangen habe. Es gab die Gerüchte, dass die Wirkstoffe gestreckt werden. Ich dachte dann, man schaut einfach nach, wie viel Wirkstoff wir einkaufen und wie viel von den Ärzten verordnet wird. Wenn das deckungsgleich ist, ist alles in Ordnung. Wenn es eine Diskrepanz gibt, gibt es ein Problem. Ich habe mir einen Wirkstoff rausgesucht, der erst seit kurzer Zeit auf dem Markt war und den ich zu 95 Prozent auch selbst eingekauft habe. Dann habe ich das mit den Rezepten verglichen - die Diskrepanz war gigantisch. Es wurde gerade mal grob ein Drittel von dem eingekauft, was eigentlich hätte eingekauft werden sollen. Es war klar: Das Gerücht stimmt.
Lokalzeit: Dass es diese Gerüchte überhaupt gab, zeigt ja, andere Mitarbeiter haben etwas geahnt. Anscheinend ist aber niemand aktiv geworden. Warum Sie?
Porwoll: Mir war klar, wenn das Gerücht stimmt, werde ich etwas machen, weil dann Menschen geschädigt werden. Das war für mich selbstverständlich, so etwas kann man nicht durchgehen lassen. Als ich es schwarz auf weiß hatte, war das ein Heureka-Moment: „So, jetzt hab ich dich erwischt“. Das ist die schöne Seite. Die hässliche ist: Jetzt bist du gefangen. Wenn du nichts machst, bist du mitschuldig. Weglaufen war keine Option.
Lokalzeit: Wie haben Sie sich nach Ihrer Entdeckung gefühlt?
Porwoll: Das war schwierig. Wir hatten ja ein privates Verhältnis. Es war keine enge Freundschaft, aber eine gute Bekanntschaft. Unsere Familien kannten sich seit fast 50 Jahren. Punkt zwei: Ich konnte ihn ja nicht damit konfrontieren. Also musste ich weiter für die Apotheke arbeiten, aber gleichzeitig auch dagegen. Man darf sich nichts anmerken lassen und gleichzeitig Material zusammenstellen und die Anzeige vernünftig formulieren. Drittens fragt man sich: Was wird dann aus mir? Man kennt die schwierigen Geschichten rund um Whistleblower. Ich habe eine große Familie zu versorgen. Das beschäftigt.
Lokalzeit: Wie ging es weiter?
Porwoll: Im Rückblick ist es schon so, dass mich erstmal die Angst vor meiner eigenen Courage gepackt hat. Ich dachte: Naja, ein Wirkstoff reicht nicht, prüf erstmal noch einen Zweiten. Zwei reichen nicht, nimm noch einen Dritten. Das zog sich dann zwei, drei Monate hin. Ich hatte einen guten Freund von mir involviert, der die Strafanzeige formulieren sollte, und er sagte dann: „Ich werde dir niemals Vorwürfe machen, aber entweder wir machen das jetzt oder wir lassen es.“
Lokalzeit: Dann haben Sie es durchgezogen. Haben Anzeige erstattet, ihre gesammelten Beweise übergeben und ausgesagt. Wie hat sich diese Entscheidung auf ihr Leben ausgewirkt?
Porwoll: Ich sage immer: Man ist so ein kleines Gummiband und wird dann auf maximale Spannung gebracht. Irgendwann macht das eigene psychische Gerüst das nicht mehr mit. Ich entwickelte eine ausgewachsene Panikstörung. Die hat mir vieles unmöglich gemacht, wie zum Beispiel Auto fahren oder über die Ampel gehen oder irgendwie normal durch den Tag zu kommen.
Lokalzeit: Mit Ihrem Wissen von heute: Würden Sie es wieder machen?
Porwoll: Immer wieder! Für mich persönlich, gäbe es keine andere Möglichkeit.
Den gesamten Film zum zum Bottroper Apothekerskandal gibt es bei "Lokalzeit MordOrte":
Lokalzeit: Was muss sich ändern im Umgang mit Whistleblowern?
Porwoll: Eine direkte Unterstützung der Whistleblower wäre wichtig. Man bräuchte Unterstützung auf mehreren Ebenen: juristisch, psychologisch und finanziell. Und man sollte auch verstehen, dass Whistleblowern der Weg zurück ins normale Arbeitsleben versperrt ist. Ein Arbeitnehmer, der einmal sowas gemacht hat, den will keiner mehr haben. Da denke ich immer, man hat für die Gesellschaft etwas getan und es wäre wünschenswert, wenn die Gesellschaft dann an dieser Stelle auch etwas zurückgibt.
Lokalzeit: Mittlerweile sind einige Jahre vergangen. Wie geht es ihnen heute?
Porwoll: Mir geht es ganz gut, weil ich die Chancen genutzt habe. Aber es liegt auch an meinem Charakter. Ich bin jemand, der sich nicht unterkriegen lässt. Ich habe jetzt ein Unternehmen in der Gesundheitsbranche gegründet, und kümmere mich weiterhin um das Schicksal von schwerkranken Menschen.