Gedenkstätte mit bunten Blumen und Kerzen. Davor steht eine Person mit rosa Jacke und einem hellblauen Regenschirm

Zehn Jahre Germanwings-Absturz: Schwester von verstorbener Schülerin erzählt

Recklinghausen | Verbrechen

Stand: 24.03.2025, 17:01 Uhr

Am 24. März 2015 zerschellte die Germanwings-Maschine 9525 in den Alpen. Die sechsköpfige Crew und 144 Passagiere starben. Eine davon ist die 16-jährige Paula Lütkenhaus. Zehn Jahre später öffnet sich ihre Schwester Anna erstmals. Unserer Autorin erzählt sie, was rund um die Todesnachricht geschah.

Von Helena Kaufmann

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Germanwings Flug 9525

Zehn Minuten vor Schulschluss bittet Direktor Ulrich Wessel vom Joseph-König-Gymnasium in Haltern am See die Schüler und Schülerinnen, nach Hause zu gehen. Doch in seiner Durchsage sagt er auch: Es gäbe keinen Grund zur Freude. Aber er spricht zu Kindern und Jugendlichen. Sorglos packen sie ihre Tornister und freuen sich trotzdem, denn sie dürfen nach Hause.

Anna Lütkenhaus ist elf Jahre alt, als ihre älteste Schwester Paula bei dem Germanwingsabsturz stirbt. Ihre Erinnerung an diesen Tag beginnt mit der Durchsage ihres damaligen Direktors. Anna und Paula besuchen bis zu diesem Morgen dieselbe Schule.

Die Germanwingsmaschine 4U9525 kollidiert am 24.03.2015 um 10.41 Uhr mit einem Bergmassiv in den südfranzösischen Alpen. Der Co-Pilot hatte sich vorher im Cockpit verbarrikadiert und den Sinkflug eingeleitet. Weil er nicht mehr leben wollte, riss er 149 weitere Menschen mit in den Tod. Darunter auch Paula Lütkenhaus, 13 ihrer Mitschülerinnen, zwei Mitschüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König Gymnasiums aus Haltern am See.

Heute ist Anna Lütkenhaus 21 Jahre alt, studiert und lebt in Münster. Unsere Autorin trifft sie in ihrem Elternhaus in Lavesum bei Haltern am See. Es ist das erste Mal, dass sie öffentlich über ihre Schwester Paula spricht.

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"Dann wusste ich, dass Paula tot ist"

Anna erinnert sich an den Heimweg vor genau zehn Jahren. Es ist ein Dienstag gegen 13.10 Uhr. Sie wartet auf den Bus, der sie nach Hause bringen soll, als ein Junge der Nachbarschule spekuliert. Er habe gehört, der Flieger mit den Austauschschülern sei abgestürzt. Anna versucht sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Passagiere eines Flugzeugabsturzes auch überleben können. Das hatte sie mal im Fernsehen gesehen.

Der Bus hält, Anna steigt aus. Als sie ihren achtjährigen Bruder sieht, weiß sie, dass Paula tot ist. Er holt sie sonst nie von der Bushaltestelle ab.

WDR-Podcast zum Absturz und seine Folgen

Der WDR-Podcast "Der Germanwings Absturz - Zehn Jahre ohne euch" gibt den Angehörigen eine Stimme. In sechs Episoden zeichnet er ein umfassendes Bild vom Kampf der Hinterbliebenen um Antworten, Gerechtigkeit und Frieden. Er erzählt nicht nur die Geschichte der Katastrophe, sondern macht die Wunden sichtbar, die sie hinterlassen hat.

Alle Folgen sind kostenlos in der ARD Audiothek abrufbar. Weitere Infos hier.

Paula war damals 16 Jahre alt und die älteste von fünf Geschwistern. Sie war selbstbewusst, mit vielen Freunden und einer Leidenschaft für Querflöte, erinnert sich Anna. Sie wollte raus in die Welt und freute sich über den Austausch in Spanien, wo sie ihren 16. Geburtstag feierte.

Damals, an diesem Dienstag, fünf Tage nach Paulas Geburtstag, liegen die bunt eingepackten Geschenke für sie auf dem Esszimmertisch. Irgendwo dazwischen ist das Fotoalbum, das alle Lütkenhaus-Kinder jedes Jahr bis zu ihrem 18. Geburtstag bekommen. Darin sind Bilder der schönsten Momente des vergangenen Lebensjahres. Der Tisch mit den Geschenken auf der einen Seite, die weinenden Eltern daneben - dieses Bild habe sich eingebrannt, sagt Anna. Bis zu diesem Moment hatte sie ihre Eltern immer stark wahrgenommen. Nie zuvor wirkten sie so traurig.

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Ein leerer Platz am Frühstückstisch

Am nächsten Morgen wacht Anna auf und fragt sich, ob das alles wirklich passiert ist. Sie muss weinen. Dieses Unverständnis überkommt sie heute noch manchmal. Immer wieder sei sie fassungslos, dass es ausgerechnet ihre Familie getroffen habe. Dann fühle sich alles an wie ein schlechter Film, sagt sie. Paulas Platz am Frühstückstisch bleibt an diesem Mittwoch leer. Diese Leere breitet sich aus und drückt schwer auf den Morgen.

Ameland - ein Ort, der Halt gibt

Anna erinnert sich, dass der Absturz das beherrschende Thema im Ort und die Presse allgegenwärtig war. Die Anteilnahme zwar schön, aber die Familie Lütkenhaus will zur Ruhe kommen. Der Tragödie entfliehen und in Gedanken bewusst bei Paula sein. Also fährt Familie Lütkenhaus, etwa eine Woche nach dem Unglück, wie jedes Jahr in den Osterferien nach Ameland in die Niederlande. Hier kommen sie zur Ruhe, finden wieder Halt. Anna schreibt ihre Gedanken zum Tod und über die Trauer zum ersten Mal auf.

Ein Buch zur Verarbeitung der Trauer

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Ein protokollarischer, aber auch reflektierter Text einer Elfjährigen, deren letzte Worte "Das Leben geht weiter!" sind. Diese Einstellung habe ihre Familie früh gehabt. Es sei unfassbar schlimm, was geschehen ist, aber sie müssten weitermachen - auch weil Paula es so gewollt hätte, sagt sie.

"Das Leben geht weiter!"

00:13 Min. Verfügbar bis 25.03.2027

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Gemeinsam loslassen

Nach der Rückführung der menschlichen Überreste im Juni 2015 wird Paula eingeäschert. Weil die Familie dem Bestattungsunternehmen zusichert, die Asche ins Ausland zu bringen, nehmen sie die Urne mit nach Hause und legen sie in Paulas Bett zwischen ihre Kuscheltiere. Die Tochter, die Schwester ein letztes Mal nach Hause bringen. Einer der schwierigsten Momente sei das gewesen - vor allem für ihre Eltern. Noch am selben Abend brechen sie auf, um nach Frankreich zu fahren.

Eine Frau trägt einen Rucksack mit Handabdrücken durch eine felsige Landschaft.

Die Familie hat die Urne in einem Rucksack durch die französischen Alpen transportiert, um Paulas Asche zu verteilen

Wochen vor dem Absturz hat Paula zufällig ihrer Großmutter erzählt, wie sie beerdigt werden möchte. Ihre Asche soll aus einem Flugzeug verstreut werden. Familie Lütkenhaus überlegt, wie sie Paulas Wunsch erfüllen kann. Die Familie entscheidet, dass Paulas letzte Ruhestätte im französischen Chamonix-Tal sein soll. Bei einer Wanderung verstreuen sie Paulas Asche dort in den Alpen, jeder von ihnen hat eine Hand an der Tüte. Gemeinsam lassen sie Paula los. So sei sie in der Welt, immer und überall bei ihnen, das findet sie schön, sagt Anna.

Über dieses Thema haben wir auch am 06.03.2025 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Münsterland, 19.30 Uhr.