"Daphi, na komm." Selbstbewusst steht der 22-jährige Tobi Müller am linken Hinterbein der ausgewachsenen Stute. Müller heißt eigentlich anders, aufgrund von Persönlichkeitsrechten nennen wir hier aber nicht seinen richtigen Nachnamen. Er nimmt die Hufe in die linke Hand, in der rechten hält er eine Bürste, mit der er die Hufe vom Schmutz befreit. In den ersten Tagen wäre das für Müller noch undenkbar gewesen. Mittlerweile sitzt jeder Handgriff.
"Ich hatte mit Pferden bislang noch nichts zu tun, ich habe denen höchstens mal eine Karotte hingehalten. Hier wurden wir langsam herangeführt", blickt Müller, der wegen Drogenhandels zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, auf die ersten Tage zurück.
Häftlinge tauchen in eine komplett neue Welt ein
Eine Woche lang lernen Müller und zwölf weitere Häftlinge das Leben auf dem Pferdehof kennen, misten Ställe aus und kommen dabei vor allem den Tieren näher.
Sportwissenschaftler der Universität Bielefeld beobachten sie dabei mit der Videokamera, führen Interviews und verteilen Fragebögen. Sie wollen Stärken und Schwächen herausfinden, wie ausgeglichen und unausgeglichen die Häftlinge sind, wo Grenzen liegen.
"Reiten kann keiner allein. Es ist ganz anders als bei einem Sportgerät", erklärt Professor Bernd Gröben von der Universität Bielefeld und ergänzt: "Hier haben die jungen Häftlinge einen Partner, in diesem Fall das Pferd und das reagiert ganz sensibel, wie sie mit ihm umgehen. Wenn sie ihm vertrauen, dann gibt das Pferd Vertrauen zurück, wenn sie Angst haben, ist das Pferd auch ängstlich, wenn sie zu hart sind, wehrt sich das Pferd auch. Das ist sehr spannend zu sehen, wie so eine Situation gemeistert wird."
Häftlinge lernen neben der Tierpflege auch das Reiten
Der 60-jährige Sportwissenschaftler hat dieses Projekt mit einer kleinen Gruppe Studierender organisiert. "Wir haben mit Häftlingen zum Beispiel auch Tanzprojekte gemacht. Wir vergleichen Daten auf der Verhaltensebene: Werden die Häftlinge fitter? Tut sich etwas auf der sozialen Ebene . Beim Tanzprojekt im Sommer vergangenen Jahres haben wir sehr positive Ergebnisse gehabt. Die Gefangenen haben nicht nur ihre sozialen Kompetenzen verbessert, sondern auch ihre Aufmerksamkeit.", sagt Gröben. Die publizierten Studien würden sogar international diskutiert. "Wissenschaftlich ist das hochspannend."
Dann wird es ernst. Tobi ist inzwischen auf dem Reitplatz angekommen. Jetzt muss er zeigen, was er die Woche über gelernt hat. Die Aufgabe: richtig Aufsteigen und Leichttraben. Wichtig ist hierbei die richtige Körpersprache. Das Tier spürt, wenn Tobi zu verkrampft ist.
Leichttraben steht für Reitanfänger noch vor dem richtigen Aussitzen auf dem Programm. Hierbei steht Tobi auf dem einen Takt auf und setzt sich auf dem anderen wieder hin. Das hat den Hintergrund, dass beim Aufstehen der Rücken des Pferdes entlastet wird. Tobi meistert seine Reitübung. "Ich denke, dass ich es gut gemacht habe, hat Spaß gemacht, vielleicht etwas kurz."
"Es geht nicht um Urlaub"
Begleitet werden die Häftlinge von zwei Beamten der JVA Bielefeld-Senne. "Hierbei geht es nicht um Urlaub, die Häftlinge sollen auf ein Leben nach der Haft vorbereitet werden", macht Michael Koch deutlich. Der Beamte lernt die Häftlinge hier aber auch von einer anderen Seite kennen und ist von ihrem Engagement und Einsatzbereitschaft überrascht.
"Eine Woche geht schnell vorbei", sagt Bernd Gröben von der Universität Bielefeld. "Wir kommen hier trotzdem zu wichtigen Erkenntnissen. Diese Grunderfahrung, Vertrauen geben, mit einem so großen Tier zu kooperieren, das ist eine Schlüsselerfahrung." Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität planen gemeinsam mit der JVA Bielefeld-Senne, ein ähnliches Projekt demnächst auch mit weiblichen Gefangenen durchzuführen.
Über dieses Thema haben wir am 7.7.2023 auch im Hörfunk auf WDR 2 und im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.