Kriminalfälle aus NRW: Wie gerecht war die Strafe des Moor-Mörders?

Bielefeld | Verbrechen

Stand: 14.10.2024, 16:21 Uhr

Als ein flüchtiger Mörder im Jahr 1967 gefasst und lebenslang in Haft gesteckt wird, atmet die Bevölkerung auf. Doch: War Bruno Fabeyers Strafe wirklich gerecht? Oder wurde hier ein Opfer der NS-Zeit noch einmal zum Opfer?

Von Dana Marie Weise

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Nur eine Verbrecherjagd?

Im Jahr 1966 ist ganz Deutschland in Alarmbereitschaft: Bruno Fabeyer, Mörder und Einbrecher, ist auf der Flucht. Er versteckt sich in Waldlagern, in Ställen auf Bauernhöfen, in Mooren und entkommt dabei immer wieder knapp der Polizei über elf Monate lang. Er hält sich vor allem im Osnabrücker Raum und in der nordrhein-westfälischen Eifel auf. Auch in Bielefeld und Ibbenbüren wird er gesichtet. Im Februar 1967 wird der Verbrecher gefasst, ihm wird ein fünftägiger Prozess gemacht, dann kommt der 41-Jährige hinter Schloss und Riegel. Versuchter Mord, Totschlag, Diebstähle - dafür gibt es lebenslang, mit nachfolgender Sicherungsverwahrung.

Es könnte einfach die Geschichte der größten Verbrecherjagd in Nachkriegsdeutschland sein - doch dahinter steckt deutlich mehr. Wer verstehen will, was im Fall Bruno Fabeyer geschehen ist, der muss zurückgehen. Zurück in die Zeit, in der Fabeyer geboren wurde und sich ansehen, welche Schäden diese Zeit noch anrichtete, als sie schon längst vorbei war.

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Bruno Fabeyers Vergangenheit

Bruno Fabeyer kommt 1926 in Osnabrück als jüngerer von zwei Brüdern zur Welt. Er wächst auf, während die Nazis an die Macht kommen. Der Vater erhängt sich im Gefängnis, als Bruno acht Jahre alt ist. Dort sitzt er eine Strafe wegen kleinkrimineller Delikte ab. Fabeyers großer Bruder begeht bei der Wehrmacht Fahnenflucht und wird hingerichtet. Die Mutter ist mit der alleinigen Erziehung des verbliebenen Sohnes überfordert.

Im Jahr 1939, also mit 13 Jahren, kommt Fabeyer in ein Fürsorgeerziehungsheim. Hier werden Kinder und Jugendliche nach "wertvoll" oder "minderwertig" sortiert, Zwangssterilisationen durchgeführt, Kriminelle und sogenannte "Asoziale" sollen "ausgeschaltet" werden. Fabeyer stottert schon als Kind. Das macht ihn in verschiedenen Heimen zum Außenseiter. Er erfährt nach eigenen Angaben physische und psychische Gewalt.

Über Menschen wie Bruno Fabeyer und seine Familie fällt die Gesellschaft damals ein gnadenloses Urteil: "asozial". Historikerin Claudia Bade erklärt das so: "In der Nazi-Zeit gab es eine Art Sammelkategorie für Menschen, die als ‚asozial‘ bezeichnet wurden: sogenannte ‚Landstreicher‘, Prostituierte, Zuhälter. Eine Sammelkategorie, in die bestimmte Menschen, Individuen, aber auch Gruppen von Menschen gezählt wurden, die als ‚gemeinschaftsfremd‘ auch als ‚Parasiten‘ galten, als ‚minderwertig‘ - in der Sprache jedenfalls. Man nannte das im Nazi-Sprech ‚Ballast-Existenzen‘. Es schwangen immer völkisch-rassistische Merkmale mit, und auch erbbiologische Hintergründe."

Der Bruder Deserteur, der Vater ein verurteilter Krimineller, der sich selbst das Leben nimmt, die Mutter überfordert. Die Familie Fabeyer fällt in diese Sammelkategorie. Jahre später, während der Suche nach Fabeyer, heißt es sogar vom damaligen Nachrichtensprecher des WDR-Formats "Hier und Heute": "Gesucht wird Bruno Fabeyer, Jahrgang 1926. (…) Er stammt aus einer asozialen Familie."

Mit 18 Jahren wird Fabeyer zur Wehrmacht eingezogen. Er flieht, und wird zur Strafe ins Konzentrationslager geschickt. Zum Kriegsende 1945 ist er plötzlich frei. Wohin nun? Im bürgerlichen Leben kann Fabeyer keinen Fuß fassen. Während seiner Zeit in den Fürsorgeerziehungsheimen hatte er zwar gearbeitet, doch von den Arbeitgebern nur schlechte Zeugnisse bekommen. In der Schule war er mehrmals sitzen geblieben.

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Vom Dieb zum Mörder

Bruno Fabeyer wird zum Dieb. Was er braucht, klaut er: Essen, Geld, Kleidung, aber auch Waffen und Munition. Zwischen 1948 und 1965 landet er wegen seiner Diebstähle mehrmals im Gefängnis, kommt wieder frei - und verfällt danach immer wieder in seine alten kriminellen Verhaltensmuster. Am 29.12.1965 eskaliert die Situation. Fabeyer bricht ins Haus des Postbeamten Alois Broxtermann ein. Er entwendet eine Geldbörse - und wird erwischt. Broxtermann will Fabeyer den Weg nach draußen versperren. Der Ertappte greift zur Waffe, schießt den Postbeamten nieder und flieht. Broxtermann bleibt durch die Schussverletzung ein Leben lang gelähmt.

Auf der Suche nach Bruno Fabeyer: Fahndungsplakat von damals | Bildquelle: WDR

Rund zwei Monate später, im Februar 1966, wird der nun wegen versuchten Mordes gesuchte Bruno Fabeyer in einem Gasthaus erkannt. Er flieht auf einem Damenrad - sein bevorzugtes Fortbewegungsmittel. Der Polizist Heinrich Brüggemann nimmt die Verfolgung auf, zunächst mit dem Auto. An einem Feldweg springt Fabeyer vom Rad, flüchtet zu Fuß über das Feld, Brüggemann hinterher. Nach 200 Metern Verfolgungsjagd kommt es auf dem Feld zum Handgemenge. Dann fallen zwei Schüsse. Brüggemann stirbt durch Fabeyers Waffe.

Die Tat löst die größte Fahndungsaktion der deutschen Nachkriegsgeschichte aus. An der Suche beteiligen sich Schützenvereine, private Fliegervereine, und ganz normale Bürger. Auch in den Medien wird die Flucht zum Spektakel. Immer wieder entkommt Fabeyer seinen Verfolgern knapp. Man findet seine Fußspuren und Reste seiner verlassenen Lager auf Bauernhöfen, mitten im Wald und in Mooren: Decken, Lebensmittel, Waffen, Werkzeuge. Vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen hinterlässt der nun so getaufte "Moor-Mörder" seine Spuren. Es dauert fast ein Jahr, bis Fabeyer im Februar 1967 in einem Kaufhaus in Kassel gefasst wird.

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Ein befangener Richter

Das Urteil "lebenslänglich mit anschließender Sicherungsverwahrung" spricht der Vorsitzende Richter Friedrich Jagemann über Bruno Fabeyer. Recherchen des WDR-Journalisten Arnd Henze bringen eine dunkle Vergangenheit des Richters ans Licht. Henzes Vater war in den 1970er-Jahren im niedersächsischen Justizministerium für den Strafvollzug tätig. Fabeyer saß damals in Celle ein. Mithilfe der persönlichen Fabeyer-Handakte des Vaters sowie öffentlich zugänglichen Archiven arbeitet Henze sich in den Fall ein. "Ich habe mir die Entnazifizierungs-Akte besorgt. Die zeigt, Jagemann war nicht nur NSDAP-, sondern auch SA-Mitglied. Es gab einen Hinweis darauf, dass er auch Wehrmachtsrichter war." Henze besorgt sich daraufhin die Personalakte des Richters.

"Dann wurde klar, dass er in seinem Lebenslauf verschwiegen hat, dass er sogar seine juristische Karriere in der Parteizentrale der NSDAP in Münster begonnen hat. Er hatte also sozusagen eine lückenlose Aufstiegskarriere in der NS-Zeit zum Kriegsrichter durchlaufen. Nach 1945 bekamen viele Richter genau die Positionen wieder, die sie auch vor 1945 hatten."

Möglich war das durch die sogenannte Entnazifizierung. Damit wollte man die öffentlichen Strukturen - Staat, Gesellschaft, Wirtschaft - vom Nationalsozialismus befreien. Entlassene Juristen, wie auch der Wehrmachtsrichter Friedrich Jagemann, konnten nach Kriegsende um Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst bitten. Ihre "Entnazifizierung" mussten durch Entlastungszeugnisse von Dritten bestätigt werden. Sie sollten Fragebögen, sogenannte Persilscheine, ausfüllen, zusätzlich gab es Vernehmungen. Aussagen konnten Kollegen, Nachbarn oder auch Arbeitgeber. "Seine Vergangenheit in der Parteizentrale der NSDAP wäre da möglicherweise zu belastend gewesen. Vermutlich hat Jagemann sie deshalb aus seinem Lebenslauf genommen", sagt Henze.

Resozialisierung noch kein Thema

Alles andere als unproblematisch sagt Historikerin Claudia Bade: "Es wurden einfach andere Offiziere oder Wehrmachtrichter gefragt. Und die haben dann Stein und Bein geschworen: 'Nein, der ist vielleicht in der NSDAP gewesen, war aber gar nicht wirklich Nazi.' Und die Leute in den Ausschüssen haben das dann entweder geglaubt oder nicht geglaubt." Und so kommt auch der ehemalige Wehrmachtsrichter Friedrich Jagemann wieder an einen Job.

Ein Ex-Nazi spricht also ein Urteil über ein Opfer der NS-Zeit - das wirft zumindest viele Fragen über das Urteil auf. Hinzu kommt: Die Resozialisierung von Straftätern ist damals, 20 Jahre nach dem Krieg, noch kein Thema. Bruno Fabeyer, dem laut Gericht ein "Lebensweg als Krimineller" vorbestimmt war, galt als unverbesserlich und nicht gesellschaftsfähig. Erst mit einer Reform Mitte der Siebziger gelten nicht mehr "Schuld und Sühne" als Hauptziel des Strafvollzugs, sondern eine Wieder-Eingliederung in die Gesellschaft.

Fabeyer hat das Leben des Polizisten Heinrich Brügemann auf dem Gewissen, er war Dieb und Einbrecher; den Postbeamten Alois Broxtermann hat er für sein Leben gezeichnet. Seine Taten sind nicht zu entschuldigen. Doch: "Friedrich Jagemann hätte einfach nicht mehr in der Strafjustiz tätig sein dürfen, das kann man sicherlich so sagen", sagt Historikerin Bade.