An eine Absperrung vor dem abgebrannten Haus wurde eine Blume geklemmt.

Brandstiftung in Solingen 2024: "Ich glaubte nicht, dass ich den Sprung aus dem Fenster überlebe"

Solingen | Verbrechen

Stand: 25.03.2025, 10:40 Uhr

Ende März 2024 brennt ein Mehrfamilienhaus in Solingen. Viele Mieter können sich mit knapper Not retten. Für eine Familie aber kommt jede Hilfe zu spät. Es ist Brandstiftung. Unser Autor hat nicht nur den Prozess begleitet, sondern auch mit Betroffenen gesprochen: Was haben sie erlebt? Und wie geht es heute für sie weiter?

1

Die Brandnacht und Solingen

Um 02.47 Uhr am 25. März 2024 geht der Notruf bei der Solinger Feuerwehr ein. Kaum sechs Minuten später kommt der Einsatzleiter am Brandhaus in der Grünewalder Straße an. Er sieht schon von weitem Flammen aus dem Dach schlagen, die Rauchentwicklung ist immens. Das Haus hat vier Stockwerke, ist sehr alt und baulich in schlechtem Zustand. "Ich mache das seit 25 Jahren, liebe diesen Beruf, aber das war der schwerste Einsatz, den ich jemals hatte. So etwas möchte ich nie mehr erleben", sagt er später im Prozess vor dem Wuppertaler Landgericht. Wie viele Wohnungen am Tag des Brandes 2024 bewohnt waren, bleibt erstmal unklar. Sicher ist heute, dass es insgesamt 21 Verletzte und viert Tote gab. Hauptverdächtiger ist Daniel S. Solingen und Brandanschlag - das sind Worte, die seit Mai 1993 untrennbar miteinander verbunden sind. Damals sterben fünf Mitglieder der Familie Genç bei einem Anschlag mit eindeutig rassistischem Hintergrund. Die Erinnerung daran ist in der Stadt sofort wieder da.

Das Feuer breitete sich schnell im ganzen Gebäude aus

00:12 Min. Verfügbar bis 25.03.2027

Als Daniel S. gefasst wird, macht sich ein Stück Erleichterung breit. Er hat selbst mal im Brandhaus gewohnt, von einem Streit mit der Vermieterin als möglichem Motiv ist kurzzeitig die Rede. Die Polizei präsentiert krasse rechtsextreme Karikaturen, die auf einer Festplatte gefunden wurden, zu der S. Zugang hatte. Seine Lebensgefährtin und andere Zeugen sagen aber aus, dass er von einer Nazi-Ideologie weit weg sei. 

2

Begegnung mit dem Täter

Der Prozess um Daniel S. beginnt am 21.01.2025. Im Prozess geht sein Blick scheinbar ins Leere. Ein Verhalten, das sich durch den gesamten Prozess ziehen wird, der bislang neun Prozesstage umfasst. Der Blick von Emil K. kennt an diesem Tag nur eine Richtung: den Angeklagten. Er fixiert ihn mit finsterem Blick immer wieder. S. hat Emil K. seinen Sohn, seine Schwiegertochter, seine dreijährige Enkelin und das erst vor kurzem geborene Baby genommen. Emil K. und seine Frau Gulka sind Nebenkläger im Prozess. Sie weint und schluchzt immer wieder, verlässt dann den Gerichtssaal.

Ein Mann und eine Frau sitzen auf einem Sofa.

Emil K. und seine Frau Gulka haben bei dem Anschlag alles verloren

Beide sind aus ihrer Heimat Bulgarien für den Prozess in Wuppertal angereist und bei Freunden in Gelsenkirchen untergekommen. Ein Gespräch lassen sie nur einmal zu. Es fällt ihnen sichtbar schwer. Gulka K. vergräbt immer wieder ihr Gesicht schluchzend in ein Taschentuch, Emil K. atmet schwer, ringt um Fassung. "Haben Sie schon mal lebende Tote gesehen?", fragt er. "Hier sitzen zwei. Jeden Tag stirbt ein Stück von uns." Ihr Sohn und seine Familie waren noch nicht lange in Deutschland. Sie wollten sich hier eine Existenz aufbauen. Jetzt liegt die Existenz der gesamten Familie in Trümmern.

3

Letzte Rettung: Ein Sprung aus dem Fenster

In einer Nacht wurden sie zerstört. Mit "mindestens einem Liter Benzin", wie es in der Anklage heißt. Die hat er im Hausflur des Mehrfamilienhauses ausgeschüttet und in Brand gesetzt. Das Holztreppenhaus geht sofort lichterloh in Flammen auf. Schon während der Rettungsarbeiten gibt es nur noch einen leeren Schacht, wo einmal die Treppenstufen waren. Die junge Familie von Emil K. wohnt im Dachgeschoss - und hat keine Chance zu entkommen. Nihat (26) und Ayshe K. (22) so wie ihr 18 Monate alter Sohn Salih wohnen eine Etage darunter, im dritten Stock. Sie erkennen in der Brandnacht, dass es durch die Wohnungstür keinen Ausweg mehr gibt. In einem Gespräch in Solingen sagt Nihat K.: "Wir spürten die Flammen schon an den Füßen." Er kann über die Brandnacht sprechen, Ayshe nicht. Ihr Blick geht zu Boden, sie hat Tränen in den Augen. "Wir hatten keine Hoffnung, dass wir da rauskommen. Ich hab mich umgeschaut und hab dann gesagt: Wir sind am Ende", erinnert sich Nihat K.

Nihat K. spricht über die Brandnacht

00:31 Min. Verfügbar bis 24.03.2027

"Dann habe ich meinen Sohn angeschaut. Ich habe gesagt, er hat eine Chance, dass er überlebt. Ich habe zu meiner Frau gesagt, ich springe mit ihm aus dem Fenster. Sie hat mir die Kraft dazu gegeben." Nihat K. springt, das Kleinkind ist in eine Decke gewickelt. Er drückt es vor seinen Bauch und dreht sich im Sprung auf den Rücken. "Ich habe nicht geglaubt, dass ich überlebe, wenn ich springe. Ich wollte nur das Leben meines Sohnes retten und habe auch überlebt." Er ist der Lebensretter seines Sohnes. Der verstorbene junge Familienvater aus dem Dachgeschoss hat das Leben von Nihat gerettet.

Ein ausgebranntes Haus.

Nihat K. ist aus dem dritten Stock gesprungen

Denn er landet auf dem Dach des Autos, das sein Nachbar sich erst wenige Tage vor dem Brand gekauft hat. Aber alle seine Rippen sind gebrochen. Dann springt Ayshe. Sie landet erst auf der Kante des Autodachs, schlägt dann auf dem Asphalt auf. Sie muss 14 Mal operiert werden. Beide stehen vor weiteren Eingriffen. Die psychischen Schäden werden wohl nie heilen.

4

Zerstörte Leben

Sohn Salih ist wieder gesund - körperlich. "Er hat auch ein Trauma. Als ich aus dem Krankenhaus kam, hatte er Angst vor mir. Wenn ich ihn umarmen wollte, hat er immer angefangen zu weinen. Etwas ist zurückgeblieben bei ihm im Kopf." Das Kind schreie und weine auch in der Nacht, sagt Nihat K. Die Nächte von Emil und Gulka K. sind ebenfalls kaum erträglich. "Wir nehmen Medikamente, damit wir schlafen können. Antidepressiva. Ohne die würde es nicht gehen. Es gibt keine Minute, keine Stunde, in der das Geschehene nicht in unseren Köpfen ist." Das Ehepaar wird wieder nach Bulgarien zurückkehren. Beide haben noch einen Sohn. Für den wollen sie weiterleben, das hätten sie ihm versprochen.

Weiterleben wollen auch Nihat und Ayshe K. Nur wie? "Wir hatten Hoffnungen, wir hatten Pläne, wir hatten Ziele. Aber jetzt ist alles weg. Wir haben keine Hoffnung mehr. Wir warten immer auf den nächsten Tag und leben einfach weiter", sagt Nihat K. Sie hoffen, dass es eines Tages besser wird. Eins aber wissen sie: Ihre Zeit in Solingen ist bald vorbei. "Es tut mir leid, aber nachdem, was geschehen ist, möchten wir hier nicht mehr bleiben."

5

Das Geständnis

Daniel S. hat viele Leben zerstört. Emil und Gulka K. wollen, dass seine Tat und die Opfer nicht vergessen werden. Sie haben die Stadt Solingen um die Errichtung eines Gedenksteins gebeten. Daniel S. selbst sagt während der neun Prozesstage kein Wort. Am zweiten Prozesstag aber lesen seine beiden Verteidiger eine Aussage vor, in der er komplett und vollständig alle Vorwürfe gesteht. Zu der einen Frage, die alle beschäftigt, gibt es jedoch keine Äußerung: Warum?

Über dieses Thema haben wir auch am 05.03.2025 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr.