Der Brandanschlag
Aynur Satir erinnert sich auch fast 40 Jahre später noch genau an den Moment, als sie ihre Schwester Rykie Satir plötzlich schreien hört: "Mama, es brennt. Wir brennen." Zu diesem Zeitpunkt steht das Treppenhaus schon komplett in Flammen. Für Familie Satir gibt es keinen sicheren Weg aus ihrer Wohnung nach draußen.
Hitze und Flammen drängen Aynur Satir, ihre Mutter und ihre ältere Schwester Rykie Satir ans Fenster im Wohnzimmer. "Es war so schlimm, man konnte kaum Luft kriegen. Es war so eine Hitze, wie wenn man den Backofen öffnet. Mama hat immer gesagt, dass wir nicht springen sollen", sagt Aynur Satir, die damals erst 13 Jahre alt war.
Aber Rykie Satir hält es nicht mehr aus. Sie hängt sich von außen an das Fensterbrett, während unten auf der Straße neben weiteren Nachbarn auch Ramazan Satir steht. Der Vater von Rykie und Aynur Satir war an diesem Abend noch in einer Teestube. Als er zurückkehrte, stand das Haus bereits in Flammen. Passanten konnten ihn nur mit Mühe aufhalten, in das brennende Haus zu rennen. Jetzt muss Ramazan Satir hilflos mitansehen, wie seine Tochter Rykie fällt.
Mutter und Kinder springen
"Und dann war sie plötzlich unten", sagt Aynur Satir. Nur Momente später lässt sich dann auch Aynur fallen: "Ich habe da an meinen Armen gemerkt, dass es brennt. Ich hatte höllische Schmerzen. Und dann war ich auch auf einmal unten."
Aynur und Rykie Satir überleben schwer verletzt. Ihre Mutter überlebt den Sturz aus dem Fenster nicht. Sieben Mitglieder der Familie Satir sterben in dieser Nacht im August 1984 in Duisburg. Das jüngste Opfer ist ein Baby. 23 weitere Bewohner des Hauses werden zum Teil schwer verletzt.
Ramazan Satir, Aynurs Vater, verkraftet den schweren Verlust seiner Frau und mehrerer seiner Kinder nicht. Im Jahr 1985 begeht er Suizid. Für Aynur und ihre Schwester Rykie ein weiterer Schock. Mit dem Fall beschäftigt sich auch die WDR Lokalzeit in einer Folge des True-Crime Formates MordOrte:
Die Ermittlungen
Nach dem Brand ist schnell klar, dass dieser absichtlich gelegt worden ist. Die Polizei ermittelt mehrere Wochen, kann den Fall aber nicht lösen und legt ihn vorerst zu den Akten. Auch einem möglichen rassistischen Motiv wird nicht weiter nachgegangen.
Jahre später kommt Kritik auf, dass die Polizei bei dem Brand in Wanheimerort nicht richtig ermittelt und ein rassistisches Brandmotiv zu schnell ausgeschlossen habe. Anlass dazu gibt auch eine ausländerfeindliche Grundstimmung in Duisburg in den 80er-Jahren.
Motiv Rassismus?
In Duisburg leben im Jahr 1983 56.000 Menschen mit türkischen Wurzeln. Duisburg gehört zu dieser Zeit mit Berlin, Frankfurt und Köln zu den türkischen Metropolen in der Bundesrepublik, so heißt es in einem WDR-Bericht aus dem Jahr.
Laut einer Umfrage der Duisburger Stadtverwaltung denken damals 84 Prozent der Duisburger, dass die Integration "der Türken" unmöglich sei. "Seitdem die wirtschaftliche Lage schwieriger wird, verhalten sich mehr Menschen ablehnend oder gar feindlich gegenüber ausländischen Bürgern, besonders gegenüber Türken", heißt es in dem WDR-Bericht weiter.
Mehrfach kam es in den 80er- und 90er-Jahren zu rassistischen Gewalttaten, beispielsweise beim Brandanschlag in Mölln im Jahr 1992 auf zwei Häuser, die von türkischen Familien bewohnt wurden. Damals starben drei Menschen, neun wurden schwer verletzt.
Spielte also Rassismus auch beim Brandanschlag in Duisburg eine Rolle? Aynur Satir geht davon aus: "Meine Vermutung ist, dass es Rassismus ist. Mir ist auch aufgefallen, dass an unserem Haus ein Hakenkreuz war", sagt sie. Auch der Spiegel schreibt in einem Artikel aus dem Jahr 1984 von Hakenkreuzen am Brandhaus. Ein Zeichen? Für die Polizei damals nicht.
Die Täterin
Dann brennt es neun Jahre nach dem Feuer in Wanheimerort wieder in Duisburg. Auch diesmal sind die Opfer Menschen mit Migrationsgeschichte. Bei dem Feuer in einem Asylbewerberheim werden fünf Menschen verletzt. 70 Bewohner müssen mit Drehleitern gerettet werden. Auch hier ist schnell klar: Es war Brandstiftung.
Kurz nach diesem zweiten Brand lesen Aynur Satir und ihre Schwester Rykie in der Zeitung, dass eine Frau gestanden hat, nicht nur den Brandanschlag in der Asylunterkunft gelegt zu haben, sondern auch das Feuer in ihrem Haus. Die Frau heißt Evelin D. und ist für die Polizei keine Unbekannte. Sie musste sich in mehreren Verfahren für Brandstiftungen an Containern und Garagen verantworten.
Bei einer dieser Festnahmen hat sie gestanden, auch die Brände in den Wohnhäusern gelegt zu haben. Evelin D. bestreitet dabei aber ein rassistisches Motiv. Wie glaubwürdig ist das, nachdem in Gebäuden Menschen mit Migrationsgeschichte leben?
Heinz Schmitt, der damalige Rechtsanwalt von Evelin D., glaubt seiner Mandantin: "Ein rechtsradikaler Hintergrund ist überhaupt nicht zu vermuten", sagt er rund 40 Jahre später im WDR-Gespräch. Es sei einfach ein "völlig idiotischer" Anlass gewesen. Evelin D. gibt damals an, sie sei an dem 26. August 1984 von ihren Freunden versetzt worden. Daraufhin sei sie so frustriert gewesen, dass sie den Brand in Wanheimerort gelegt habe.
Sie sagt, dass sie im Hausflur zufällig Sperrmüll gesehen und diesen dann angezündet habe. Menschen aus der Nachbarschaft bezweifeln aber, dass Evelyn D. den Sperrmüll zufällig gesehen haben kann: "Genau an der Stelle, wo der Sperrmüll stand, war es sehr dunkel. Ich bin da sehr oft abends vorbeigegangen. Ich konnte teilweise erst, wenn ich fast davor stand, sehen, ob die Tür auf oder zu ist. Sperrmüll konnte man nicht sehen", sagt Nachbarin Sabine Embers.
Der Prozess
Im November 1996 beginnt der Prozess gegen Evelin D. Die Schwestern Satir sind Nebenklägerinnen und werden beim Prozess von einem Anwalt vertreten. Ihnen ist es wichtig, über einen möglichen rassistischen Hintergrund zu sprechen. Ihr Anwalt Adnan Menderes Erdal sagt heute, dass Rassismus nur kurz Teil des Prozesses gewesen sei: "Meine Mandantin hatte damals bei der Verhandlung dieses Hakenkreuz thematisieren wollen. Sie wurde aber von dem Vorsitzenden Richter mit einer ungewöhnlich aggressiven Aufforderung unterbrochen", teilt der Anwalt dem WDR mit.
Er selbst habe dann die Verhandlung unterbrochen. "Bei der Unterbrechung habe ich versucht, meiner Mandantin klarzumachen, dass viele Behörden in Deutschland versuchen, die Brandanschläge auf Wohnhäuser von Ausländern möglichst zu übersehen bzw. die Motivation für diese Straftaten, nämlich den rassistischen Grund, nicht thematisieren wollen", so der Anwalt.
Heinz Schmitt, Anwalt von Evelin D. dagegen sagt: "Der (Richter, Anmerkung der Redaktion) war absolut offen und man hatte nicht den Eindruck, dass er die Angeklagte vor irgendwelchen Anfeindungen schützen wollte." Das Thema Rassismus sei im Prozess aus seiner Sicht ausreichend beachtet worden, auch wenn es in der Verhandlung nicht weiter vertieft worden sei.
Gericht sieht kein rassistisches Motiv
Im Urteil des Landgerichts Duisburg aus dem Jahr 1996 findet sich das Motiv Rassismus nur an einer Stelle, da geht es um den Brand im Asylbewohnerheim. Dort heißt es: "Ausländerfeindliche Beweggründe spielten bei der Auswahl des Objekts keine Rolle."
Das Gericht bewertet die Brandstiftungen von Evelin D. als neurotische Impulstaten. Für die Brandstiftung in Wanheimerort wird sie zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem ordnet das Gericht an, dass sie in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wird. Die Frau gilt als vermindert schuldfähig.
Für Aynur Satir fühlt das Urteil nicht nach Gerechtigkeit an: "Nach unserem Hausbrand sind ja viele Wohnungen angezündet worden. In Mölln, in Solingen. Hätte man damals was gemacht, wäre das vielleicht nicht passiert. Es passiert bis heute, es passiert immer noch. Das muss aufhören."
Neue Ermittlungen des LKA
Aynur wünscht sich, dass noch einmal genau hingeschaut wird. Kann eine Täterin, die neurotische Impulstaten begangenen hat, nicht doch rassistisch motiviert gehandelt haben? Mit dieser Frage und weiteren Hintergründen der Tat beschäftigt sich seit knapp zwei Jahren wieder das Landeskriminalamt NRW. Insgesamt werden 24 Fälle nachträglich auf das Motiv Rassismus geprüft. Darunter auch das Feuer in Warnheimerort.
Aktualisierung vom 4. September 2024: Bereits im April 2023 hätten erste Ergebnisse des LKA zur Bewertung der 24 Fälle vorliegen sollen. Erst im September 2024 wurden sie veröffentlicht. Sieben Taten werden demnach als Fälle "mit politischer Tatmotivation" bewertet. Der Brandanschlag aus Duisburg von 1984 gehört nicht dazu. Bei ihm gehen die Ermittler weiter davon aus, dass die Tat nicht rechtsmotiviert gewesen sei. Mehr zum Bericht gibt es hier.
Über dieses Thema berichten wir auch am 17.07.2024 im WDR Fernsehen: Lokalzeit MordOrte - "Brandanschlag in Duisburg: Motiv Rassismus?", 22.15 Uhr und in der ARD Mediathek.