Hawerkamp Münster: Von Beton- zur Kulturfabrik
Es ist Mittwoch 0.30 Uhr in der Nacht. Morgen ist Feiertag. Wellen von Fahrrädern strömen auf das Gelände mit den alten vollgesprayten Industriegebäuden aus Backstein. "Seitdem ich 15 bin, haben meine Freunde immer wieder von den Clubs geschwärmt", sagt einer der Besucher, Hendrik Feldmann. Er steht vor einer umfunktionierten Lagerhalle, aus der dumpfe Rockmusik tönt "Damals bin ich natürlich nicht reingekommen", sagt er Feldmann.
Mittlerweile ist er 32 Jahre alt, steht fest im Leben und ist immer noch regelmäßiger Besucher. Er kommt, um hier eine alternative Kulturlandschaft zu erleben. "Damals wie heute fasziniert mich, dass sich jeder hier in friedlicher Atmosphäre ausleben und einfach mal loslassen kann."
Hier, das ist der Hawerkamp – eine ehemalige Betonfabrik aus der Nachkriegszeit von 1919 und heute eines der wichtigsten Kulturquartiere Münsters. Seit der Insolvenz 1988 des internationalen Unternehmens Peter Büscher und Söhne wird es vor allem von Kunst- und Kulturfans sowie Partygängern genutzt.
Wo früher Beton gegossen wurde sind heute fünf Clubs, Kunstateliers, Autowerkstätten, Büros und probende Bands verteilt auf drei Gebäude. Direkt am Eingang steht das dreistöckige ehemalige Verwaltungsgebäude. Links dahinter eine längliche Halle, die drei Clubs beherbergt. Auf der Rückseite des Geländes beginnt ein länglicher Büro- und Hallenkomplex mit Werkstätten. Alle drei Gebäude rahmen eine Freifläche in der Mitte ein. Zeugen der industriellen Vergangenheit Münsters. Aber die Anziehungskraft des Hawerkamps liegt vor allem in den Häusern und um das zu verstehen, dreht man die Uhr am besten nochmal zurück.
Der Mittag: Eine Künstleroase
Denn gegen 13 Uhr sind erstmal einige Spaziergänger auf dem Weg zu den mehr als 50 Ateliers auf dem Gelände. In einem davon arbeitet und stellt Martina Meyer-Heil aus. Die 62-jährige Malerin und Bildhauerin thront auf einem schicken alten Sessel zwischen ihren Skulpturen und Bildern in ihrem Atelier im Gebäude "G" – das alte Verwaltungsgebäude der Baufirma.
Im Haus G ist vom alten Bürotreiben nichts mehr zu spüren, stattdessen zieren bunte Gemälde die Vorhalle und in einer Ecke residiert scheinbar seit Jahrzehnten ein brauner, verbeulter Lederkoffer mit Aufklebern von anno dazumal: "In Münster muss alles perfekt sein. Der Hawerkamp ist ein schöner Kontrapunkt zum Rest", sagt Meyer-Heil Der Rest, das ist für sie die schöne restaurierte Innenstadt, mit ihren Arkaden und den kleinen Läden auf dem Prinzipalmarkt. Schon puppenhaft, sei Münster für sie. "Diese Industriebrache war mir hingegen irgendwie vertraut", sagt die ehemalige Duisburgerin: "Da habe ich mich ganz heimelig gefühlt."
Auch, wenn der Hawerkamp wie ein Relikt aus der Hausbesetzerzeit wirkt, waren seine Anfänge ganz pragmatischer Natur. Nachdem Büscher und Sohn 1988 pleite gingen, wurden Räume auf dem 1919 gebauten Betriebsgelände an Künstler, Clubs und Handwerker vermietet, um die Gläubiger des Unternehmens zu besänftigen.
Unter ihnen Martina Meyer-Heil: "Ich kam 1990 auf den Hawerkamp, damals noch im Gebäude H, was mittlerweile abgerissen wurde." Überzeugt habe sie die ruhige Lage, obwohl das Gelände anfangs gruselig wirkte: "Tagsüber hat man das Gefühl, man ist ganz allein, aber ich kann mich hier zurückziehen, um künstlerisch zu arbeiten." Eine kleine Oase der Muse, dort wo man es am wenigsten erwartet – inmitten von Clubs und Proberäumen.
Der Nachmittag: Bühne frei!
Mittlerweile ist es 15.30 – das Ende des Gesprächs mit Meyer-Heil wird von Gitarren übertönt. Vor dem Atelierfenster blickt man auf die Freifläche, eingegrenzt von einer Mauer auf der einen Seite, einem hochgewachsenen Baum auf der anderen und darüber schwebt ein rostendes Metallgerüst. An der Mauer stehen ein Schlagzeug, einige Stühle sowie Instrumente samt Verstärker. Vor der improvisierten Bühne haben es sich einige Schaulustige auf Decken gemütlich gemacht. Vor ihnen steht Marco Hasselmann und klimpert etwas auf seiner Gitarre.
"Wir haben während Corona mit der Session angefangen. Das hat keiner geglaubt", sagt der 56-jährige Englischlehrer. Zusammen Musik machen war damals kaum möglich, zumindest nicht in Innenräumen. Also wurden die Instrumente einfach nach draußen geschafft. Seitdem wird jeden Sonntag am Kamp, wie der Hawerkamp auch genannt wird, gejammt – wenn es das Wetter zulässt.
Marco Hasselmanns Proberaum ist unter dem Technoclub "Favela". Der Eingang trägt keinerlei Schilder oder Hinweise darauf, dass sich dahinter was verbergen könnte. In den Kellerkatakomben ist jeder Zentimeter der Wand beschrieben oder bemalt. Er biegt hinter wummernden Heizrohren auf einem Flur ein. Rechts sind mehrere Türen, eine davon ist offen. "Kommt ihr gleich mit hoch", fragt er hinein: "Nee, heute mal nicht" tönt es zurück. Hasselmann zuckt mit der Schulter, während er seinen Proberaum aufschließt.
"Ich will den Hawerkamp nicht missen, aber wenn man ehrlich ist, ist es hier ziemlich baufällig." Vor kurzem erst stand Wasser in seinem Proberaum. "Du hast hier ein Soziotop von echten Freaks, nämlich Hippies und echte Künstler im besten Sinne." Die seien aber nicht die schnellsten, wenn es um Geld und Organisation geht.
Der Hawerkamp sollte mehrfach abgerissen werden, einzelne Gebäude existieren schon nicht mehr. Aber die blühende Szene wurde zu einem schlagenden Argument im Bewerbungsportfolio Münsters zur Kulturhauptstadt. Zwar bekam Münster den Zuschlag nicht, dafür der Hawerkamp seine Freiheit – wenn auch nur befristet.
Seit 2006 ist der Hawerkamp unter der "Erhaltet den Hawerkamp" e.V. in Selbstverwaltung. 2013 löste der neugegründete Mieterverein "H31" e.V. den Verein ab, um die Struktur im Hawerkamp neu zu sortieren und damit eine Weiternutzung zu sichern, damals von 2015 bis 2025. Wie es danach weitergeht, bleibt abzuwarten: "Ewig wird das hier nicht weitergehen", sagt Hasselmann etwas wehmütig aber bis dahin "wird richtig gegroovt". Er schließt den Proberaum ab und geht mit einem frischen Bier zurück zur Jam-Session.
Die Nacht: Jenseits vom Mainstream
Es ist kurz vor Mitternacht am Haus G und das Münsteraner Partyvolk trudelt erst langsam am Kamp ein. "Die Discoszene war schon vor den bildenden Künsten da, aber wir haben da selbstverständlich unterschiedliche Interessen", sagte Meyer-Heil zum Partytreiben: "Die Clubs wollen natürlich viele Besucher, die richtig feiern und die Künstler ihre Ruhe." Sie hat Verständnis für die Partyszene aber der Müll stört sie.
0.30 Uhr – hier ist Hendrik Feldmann wieder. Wie so oft wartet er auf den Einlass in den Rockclub "Sputnikhalle": "Der Hawerkamp ist so ein wichtiger Kulturraum, um unterschiedlichen Musikrichtungen eine Bühne zu bieten, die in Münster sonst keinen Platz fänden." Feldmann ist mit seiner Metal-Band untewegs. Gemeinsam haben sie in der Sputnikhalle ihre ersten Schritte als Musiker gemacht. Neben der Sputnikhalle hat sich mit dem Reggaeclub Triptychon, den Technoclubs Favela und Fusion sowie dem Hiphop-Club Conny Kramer eine ziemlich große Partyszene am Kamp entwickelt.
Was die Begegnungen des Tages eint, ist die Faszination für eine Kultur, für eine Stimmung, die anders ist. "Es mag hässlich aussehen für manche, aber es macht neugierig und lädt ein, neue Dinge zu entdecken. So kommen viele Menschen miteinander in Berührung und das ist ein Mehrwert für die Gesellschaft", sagt Hendrik Feldmann, dreht sich um und verschwindet in der Sputnikhalle.