Die verlassene Schokoladenfabrik aus der Luft

00:12 Min. Verfügbar bis 30.03.2026

Willy Wonka lässt grüßen: Ostwestfalens verlassene Schokoladenfabrik

Minden-Lübbecke | Unterwegs

Stand: 30.03.2024, 10:37 Uhr

Es ist keine Kulisse aus einem Gruselstreifen. Dieser hier ist real. Und er steht da, wo man ihn wohl am wenigsten vermutet. In ihm leben keine Umpa-Lumpas, dafür aber viele uralte Legenden. Die Geschichte eines längst verlorenen Ortes.

Von Luca Peters

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Ein Ort zum Gruseln

Christian Barnbeck kann es nicht glauben. Dieser Spruch da drüben an der Wand. Genauso, wie er ihn sich vor vielen Jahren eingeprägt hat. Fünf Worte sind es nur. Fünf Worte, die Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit wach werden lassen. An Mutproben. An dunkle Nächte. Und an ein mysteriöses Gebäude. "Hier liegen die toten Kinder" steht da geschrieben.

Ein Stück Zeitgeschichte, ein blaues Graffiti auf kalkweißem Grund, hingeschmiert in einer längst vergangenen Zeit. Von wem? Das weiß niemand. Auch der 37-Jährige nicht. Mit aller Macht stemmt er die schwere hölzerne Falltür zu Füßen des Graffitis nach oben. Ein schwacher Lichtstrahl fällt in die gähnende Schwärze unter ihm. Einen Moment zögert Barnbeck noch. Dann steigt er hinab. In die Schwärze. Und die eigene Geschichte.

Wie eine der Mutproben fast ein böses Ende genommen hätte

00:40 Min. Verfügbar bis 30.03.2026

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Untergegangen in Ruinen

Ein unscheinbares Industriegebiet im ostwestfälischen Bad Oeynhausen. Niedrige Wellblechdächer ducken sich hinter großen Backsteinmauern. Dazwischen: Ein Meer von Parkplätzen. Die Kurstadt mit ihren weiß getünchten Bäderfronten und den ausgedehnten Parkanlagen wirkt hier unfassbar weit weg. Das hier ist ein Ort, an dem man normalerweise achtlos vorbeifährt. Wenn sie nicht dastehen würde. Die alte Schokoladenfabrik Lammert. Das gesamte Grundstück ist ungefähr so groß wie ein Fußballplatz. Offiziell darf niemand das Gelände betreten. Den Besuch von Barnbeck hat der Besitzer der Immobilie, ein Bauunternehmer, aber genehmigt.

Diese Lost-Places kannst du selbst besichtigen

Häufig ist das Betreten von "Lost Places" Hausfriedensbruch und damit illegal. Es gibt aber ein paar Orte in NRW, die dir ganz legal ein "Lost Places"-Gefühl geben:

  • Landschaftspark Duisburg-Nord: Auf dem ehemaligen Industrieareal können Besucher zwischen den Gebäuden umherstreifen und vereinzelt auch hochklettern. Der Eintritt ist frei.
  • Autoskulpturenpark in Mettmann: Seit Jahrzehnten lässt der 73-jährige Düsseldorfer Michael Fröhlich auf seinem Grundstück alte Autos verrotten. Jeden Sonntag kann man den Park besuchen. Mehr dazu hier.
  • Bunker unter dem Essener Hauptbahnhof: Der ehemalige Bunker kann im Rahmen besonderer Führungen besichtigt werden. Wer sich einen Einblick verschaffen will, schaut einfach in diesem Beitrag nach.
  • Bunkermuseum Oberhausen: Es werden kostenfreie Führungen angeboten, zu denen man sich allerdings anmelden muss.
  • Dorfwüstung Wollseifen in der Eifel: Zuerst wurde das Dorf von den britischen Streitkräften beansprucht und zu einem Truppenübungsplatz umgebaut, 1950 an das belgische Militär übergeben. 2006 wurde der Übungsplatz aufgegeben und steht Besuchern offen.

Die verschnörkelte Fassade der alten Schokoladenfabrik aus der Kaiserzeit trotzt seit fast 115 Jahren dem Wandel der Jahreszeiten. Einst wurde hier westfälischer Pumpernickel hergestellt, ehe der Besitzer der Fabrik in Zeiten der großen Depression auf Schokolade und Pralinen umstieg.

Die verlassene Schokoladenfabrik im Hintergrund, ein luftloser Fußball im Vordergrund

Wenn ein Wort reicht, um das Gefühl vor Ort zu beschreiben

Im Zweiten Weltkrieg wurde die Fabrik zweckentfremdet und als Lager für Zwangsarbeiter genutzt. Die berühmt-berüchtigte Organisation Todt, eine paramilitärische Bautruppe der SA, benötigte sie zur Instandhaltung der nahegelegenen Weserbrücke, die immer wieder Ziel von alliierten Bombenangriffen wurde. Nach dem Krieg diente sie den britischen Besatzern als Friedhof für ausgediente Möbel, ehe doch nochmal Schokolade produziert wurde.

1966 war endgültig Schluss und die Fabrik versank in Bedeutungslosigkeit. An Schokolade und Pralinen erinnert heute fast gar nichts mehr. Das Gebäude ist völlig leer geräumt. Keine Maschinen, keine Büromöbel, keine Säcke voller Kakao. Und erst recht keine Schokolade. Ihr neuer Besitzer, ein lokaler Bauunternehmer, lässt hier manchmal Firmenfeiern ausrichten. Ansonsten schützt ein Wachdienst diesen mystischen Ort vor neugierigen Blicken.

Alles, was bleibt, ist die Vorstellungskraft. Wie es hier gerochen haben muss. Wie es hier ausgesehen haben muss. Die Schokoladenfabrik gibt ihre Geheimnisse nicht einfach so preis. Man muss sie aufspüren.

Warum die Schokoladenfabrik der perfekte Ort für Horrorfilme wäre

00:18 Min. Verfügbar bis 30.03.2026

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Im dunklen Loch

Ein Lichtstrahl. Sonst nichts. Nichts. Außer Dunkelheit. Langsam tastet sich Barnbeck in die Kellerräume vor. Im eigentlichen Leben ist er Touristiker und Stadtführer in Bad Oeynhausen, niemand kennt die Ruine so gut wie er. Schon als kleiner Junge ist er hier hinabgestiegen. Als Mutprobe. Um es den Kumpels zu beweisen. Angst habe er gehabt, sagt er. Schreckliche Angst. Vor den Geräuschen, die man hier nachts höre. Vor den klaffenden Löchern im Kellerboden, hier, wo einst die Vorräte der Fabrik aufbewahrt wurden. Doch nach oben seien sie am Ende alle wieder gekommen. Barnbeck und auch seine Freunde. Irgendwie zumindest.

Oben. Das ist da, wo man die Hand wieder vor Augen sehen kann. Barnbeck blickt aus dem Fenster des ehemaligen Fabrikantenbüros. Er schaut nachdenklich drein. So viele Geschichten hat er noch zu erzählen. Von längst verstorbenen Nazi-Direktoren, die von hier aus die Fabrikbelegschaft terrorisierten. Von einem Einsiedler, der in den Überresten dieser Ruine gehaust haben soll. Doch Barnbeck zögert. Soll er wirklich alles auspacken über diesen Ort?

Noch einen Moment hält er inne. Dann schwingt er sich auf sein Fahrrad und fährt nach Hause. Barnbeck hat es verstanden: Es ist nicht das, was man weiß, was diesen Ort so faszinierend, so magisch macht. Es ist das, was man nicht weiß.

Über dieses Thema haben wir auch am 01.02.2024 im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.