Eine Frau mit Brille steht in einem Wohnmobil, im Hintergrund sitzen drei Schüler an Tischen

Das rollende Klassenzimmer: Unterricht für Zirkuskinder

Mettmann | Unterwegs

Stand: 12.12.2023, 10:15 Uhr

Silke Fislage ist keine gewöhnliche Lehrerin – sie ist eine, die ihren Schülern kilometerweit hinterher reist! Denn die 50-Jährige unterrichtet Zirkuskinder und arbeitet jeden Tag in einer anderen Stadt. Ihren Klassenraum bringt sie dabei immer selbst mit.

Von Hanna Makowka (Text) und Ina Reuter (Multimedia)

Von außen sieht das weiße Wohnmobil ganz gewöhnlich aus. Nur der Schriftzug "Schule für Circuskinder" und ein Zirkuszelt-Sticker verraten, dass Silke Fislage mit ihrem Wagen nicht in den Urlaub fährt, sondern zum Unterricht. Für die Fahrt muss alles gut gesichert werden: die Stühle werden festgeschnallt, die Arbeitsmaterialien verstaut. Deshalb ist Fislages erste Aufgabe am Tag auch immer, das rollende Klassenzimmer herzurichten. Stühle abschnallen und an die richtige Stelle rücken, Papiere und Stifte aus den Hochschränken holen, die ringsherum hängen. In ihrem Mini-Klassenzimmer hat alles seinen festen Platz – insgesamt können hier sechs Kinder gleichzeitig lernen und arbeiten. Betten oder eine Küche sucht man in diesem Wohnmobil vergeblich.

Heute hat Fislage den Zirkus Casselly angesteuert, der gerade in Remscheid gastiert. Neben dem 14-jährigen Miguel (neunte Klasse) und dem zwölfjährigen Anthony (siebte Klasse) sind auch Fabienne (dritte Klasse) und Luis (fünfte Klasse) dabei. Fislage muss alle Altersstufen gleichzeitig unterrichten. Eine Herausforderung. Genau wie der zehnjährige Luis braucht die achtjährige Fabienne Unterstützung in Mathe, Anthony ist fertig mit seinen Aufgaben und braucht die nächsten. Gar nicht so leicht für die Lehrerin. "Das ist der Alltag hier, dass man alles gut unter einen Hut kriegt."

Silke Fislage übt mit Luis Mathe – der Zehnjährige hat zwei Tage Präsenzunterricht pro Woche

00:35 Min. Verfügbar bis 12.12.2025

Fislage ist eigentlich Grundschullehrerin, hat fast 20 Jahre an einer Schule unterrichtet. Doch 2018 entscheidet sie, dass sie "irgendwie eine Horizonterweiterung" will. Heute sehen ihre Arbeitstage anders aus als bei den meisten ihrer Kollegen: Jeden Tag ist sie an einem anderen Zirkus- oder Schaustellerstandort. Für sie eine Herzensangelegenheit: "Die Zirkuskinder brauchen uns! Denn ihr Leben ist nicht einfach – jeden Tag im Camper, kaum soziale Kontakte außerhalb des Zirkus und weniger Freizeit als andere Kinder." Deswegen will Fislage ihr Wohnmobil nicht nur zu einem Ort des Lernens machen: "Schule muss einfach ein guter Raum sein. Man muss Vertrauen haben zum Lehrer, gut mit ihm klarkommen und das finde ich hier noch mal wichtiger als an einer Regelschule!"

Wie ist Silke Fislage zu diesem außergewöhnlichen Job gekommen?

00:40 Min. Verfügbar bis 12.12.2025

Die Schule für Zirkuskinder in Nordrhein-Westfalen wurde 1994 in Hilden gegründet. Betrieben wird sie von der evangelischen Kirche. Bundesweit gibt es dieses Konzept neben dem Standort in Hilden nur noch in Hessen. Bevor es diese Schule gab, haben viele Zirkusleute die Schule abgebrochen. Jetzt machen die meisten Kinder ihren Realschulabschluss. Pro Zirkus gibt es zwei Schultage, an denen die Kinder gemeinsam mit ihrer Lehrerin oder ihrem Lehrer lernen. An den anderen Tagen sind die Lehrkräfte bei einem anderen Zirkus, für diese Zeit bekommen die Kinder Aufgaben und müssen selbstständig arbeiten. Ohne die Zirkusschule müssten die Kinder, wie es früher auch ihre Eltern getan haben, mit jedem Standortwechsel ihres Zirkus – also in der Regel wöchentlich – an eine neue Schule.

"In diesem Job muss man gerne Autofahren!"

Silke Fislage erinnert sich noch genau an ihren allerersten Tag in Hilden: "Das war der Horror!“, sagt die Lehrerin lachend und beschreibt, wie sie damals ihr Wohnmobil abholte. "Wir sind keine normale Schule, wir haben in Hilden keine Klassenräume – nur ein Verwaltungsgebäude. Und davor stehen unsere Schulwagen." Sie sei vorher noch nie Wohnmobil gefahren und habe damals nur eine kurze Einweisung bekommen, "und zu Hause habe ich dann direkt das Efeu vom Nachbarn mitgenommen, weil unsere Straße so eng war." Heute ist die 50-Jährige längst routiniert – Fahren gehört schließlich zu ihrem Job dazu.

Ein weißes Wohnmobil mit der Aufschrift "Schule für Circuskinder in NRW"

Das "rollende Klassenzimmer"

Beim Zirkus Casselly steht heute nur noch Bio-Unterricht auf dem Plan, es geht um Pilze. Die haben sie am Vortag zusammen im Wald direkt neben dem Zirkuszelt gesammelt. Dann ist 14 Uhr. Schluss mit Unterricht. Miguel wirft sich seinen blauen Rucksack über die Schulter und verabschiedet sich von Fislage. Die nächsten Tage lernen er und die anderen Schüler alleine – bis sie wiederkommt: ihre Zirkuslehrerin.

Über dieses Thema haben wir auch am 19.10.2023 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Düsseldorf, 19:30 Uhr.