Der Jungbulle geht Michael Stinn nur bis zum Bauch. Seine Hinterbeine hat das noch namenlose Tier ins Stroh gegraben, die Vorderbeine breit gemacht, den Kopf herausfordernd nach unten geneigt. Spielerisch fordert er den Landwirt zum Kräftemessen heraus. "Kämpfen willst du auch, ne?", sagt Stinn. Wild krault er den einen Monat alten Bullen am Kinn, am Kopf und an den Ohren. Aus dem rauflustigen Heranwachsenden wird ein verschmustes Kalb.
130 Rinder und neun Kälber versorgt der Landwirt auf seinem Betrieb in Attendorn. Stinn lebt von der Fleischproduktion. Ein großer Teil der männlichen Rinder wird später an Mastbetriebe verkauft, manche Tiere auch für den eigenen Verzehr geschlachtet. Dabei setzt der Landwirt auf Mutterkuhhaltung. Neugeborene Kälber bleiben die gesamten acht Monate ihrer Säugezeit bei der Mutter und wachsen in der Herde auf. Einen Großteil des Jahres verbringen die Rinder gemeinsam auf der Weide und fressen Gras und Kräuter, im Winter liegen sie im Stall auf Stroh.
Mutterkuhhaltung: (K)ein Modell für alle?
Mutterkuhhaltung findet häufig auf Flächen statt, die sich nicht für die intensive Landwirtschaft eignen, zum Beispiel Flussauen oder Hanglagen. Die Rinder treten dabei Flächen frei, die sonst mit Buschwerk zugewachsen wären. So schaffen sie Lebensraum für Insekten.
Mit einem kleinen Trecker fährt Stinn das Futter für die Kühe in den Stall und wuchtet es mit seiner Mistgabel wenig später in die Futterrinnen vor den Tieren. Die Grassilage hat er von den eigenen Wiesen gewonnen. Die naturnahe Haltung und das hochwertige Futter machen für den Landwirt mehr Arbeit. Für Stinn ist es das wert. So kann er den Tieren ein gutes Leben ermöglichen: "Wenn kein Tier die Ohren hängen lässt, alle wiederkauen und jedes Euter leer ist, dann bin ich abends ausgeglichen und gehe zufrieden ins Bett." Eine Blaupause für andere landwirtschaftliche Betriebe ist die Mutterkuhhaltung trotzdem nicht.
Denn die Herden müssen relativ klein bleiben, die Halteflächen sind größer und oft verteilt. Vor allem die Weidehaltung erfordert viel Arbeit. Die Bauern müssen unter anderem Einzäunungen herrichten und instand halten, Weidezäune freimähen oder die Wasserversorgung sicherstellen. Und dann stellt sich auch die Frage, ob sich Mutterkuhhaltung wirtschaftlich überhaupt lohnt.
Eine Studie hat sich 2013 ostdeutsche Betriebe angeschaut. Dort betrug der Verlust pro Mutterkuh im Schnitt 251 Euro. Seit Veröffentlichung der Studie dürften die Lerneffekte aus der Bewirtschaftung gestiegen sein, trotzdem bleibt Mutterkuhhaltung eine Ertragsquelle mit Risiko.
Haltungsform mit Seltenheitswert
Michael Stinn nähert sich einer Kuh von hinten und klopft ihr auf den Rücken. Regelmäßig kontrolliert er, ob es den Muttertieren gut geht. "Wichtig ist, dass sich das Tier nicht erschrickt", erklärt der Landwirt.
Er stellt sich neben die Kuh, beugt sich herunter und greift mit seiner ausgestreckten Hand nach dem Euter. Mit sorgfältigen Bewegungen tastet er ihn ab und nickt zufrieden, kaum Milch drin, ein gutes Zeichen. "Wenn ein Euter voll ist, stimmt etwas nicht. Entweder fühlt es das Kalb nicht wohl oder der Kuh geht es nicht gut, sodass die Milch nicht schmeckt."
In Deutschland und NRW gilt Mutterkuhhaltung als Seltenheit in der Rindfleischproduktion. Statistiken, wie viele Betriebe in NRW ihre Rinder so halten, gibt es nicht. Laut Statistischem Bundesamt wurden in Deutschland im November 2022 etwa 610.000 Mutterkühe samt Nachwuchs gehalten. Ein kleiner Teil im Vergleich zu den etwa elf Millionen Rindern insgesamt.
Für Michael Stinn kommt trotzdem nur die Mutterkuhhaltung in Frage. Er hat ein besonders enges Verhältnis zu seinen Tieren. Das heißt, dass manche Abschiede auch dem erfahrenen Landwirt schwerfallen. Zum Beispiel bei Kuh Heidi. "Sie ist bei uns sehr alt geworden. Am Ende ist sie vom Tierarzt erlöst worden, wir konnten sie nicht zum Schlachter geben."
Was ist muttergebundene Kälberaufzucht?
Mutterkuhhaltung wird manchmal mit muttergebundener Kälberaufzucht gleichgesetzt. Erstere findet nur in fleischproduzierenden Betrieben statt. Die Mutterkühe dort werden vom Landwirt nicht gemolken. Von muttergebundener Kälberaufzucht spricht man in der Milchproduktion. Die Kälber dürfen zwar ebenfalls bei der Mutter saugen, die Kuh wird aber zusätzlich gemolken. Mit dem Thema muttergebundene Kälberaufzucht hat sich auch unser YouTube-Format Lokalzeit Land.Schafft. auseinandergesetzt. Den Film dazu gibt es hier:
Kritik am Status Quo
In den meisten deutschen Landwirtschaftsbetrieben werden die Kälber spätestens einen Tag nach ihrer Geburt von den Müttern getrennt. Für die Wirtschaftlichkeit eines Betriebs hat das viele Vorteile: Die Milch der Mutterkühe kann ohne den Nachwuchs sofort genutzt werden, die Kälber stecken sich bei ihren Müttern nicht mit Krankheitserregern an und die Ställe können kleiner sein.
Tierschützer kritisieren, dass so keine Bindung von Mutterkuh und Kalb entstehe. Studien wiesen bereits nach, dass Kälber ohne ihre Mütter unter einer chronischen Stressbelastung leiden. Viele von ihnen lernen den Umgang mit ausgewachsenen Kühen nicht und entwickeln Verhaltensauffälligkeiten, saugen zum Beispiel auch im Erwachsenenalter an Objekten.
Erwiesen ist aber auch: Wenn Mutter und Kalb getrennt werden sollen, dann besser früher als später. Denn es braucht etwas Zeit, bis Kind und Mutter eine enge Bindung aufbauen. Eine Zwischenlösung können Ammenkühe sein, die neben dem eigenen auch fremde Kälber säugen. Solch eine Ammenkuh lebt auch bei Michael Stinn - aber aus anderen Gründen.
Trotz der zusätzlichen Arbeit und seiner Bindung zu den Rindern sind sie für Stinn keine Haustiere: "Die Tiere sind unser Nahrungsmittel. Das ist ein Stück der Wahrheit. Aber wenn ich weiß, dass sie ein gutes Leben hatten, ist es für mich okay, dass sie diesen Gang gehen."
Über das Thema haben wir am 24.01.2024 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit Südwestfalen, 19.30 Uhr.