Luis Klien steckt mit seinen Gummistiefeln tief im Schlamm. Tagelang hat es im Wittgensteiner Land geregnet. Der 17-Jährige nimmt es gelassen. Aus einem Eimer holt er mit einer kleinen Schaufel das Futter für die Highlandcattle-Rinder und verteilt es in die Behälter auf der Weide. Die zotteligen Tiere mit den imposanten Hörnern kommen hungrig angelaufen.
Seit 10 Monaten macht Luis ein Jahrespraktikum bei Landwirt Jochen Born. Zusammen mit seiner Frau Heike betreibt Born einen Naturhof in der Nähe von Bad Berleburg. "Naturhof, weil unsere Rinder das ganze Jahr über keinen Stall kennen", erklärt der 54-Jährige. Born und Luis sind in dem knappen Jahr ein richtiges Team geworden. Das ist nicht selbstverständlich. Luis hält gewöhnlich Menschen auf Abstand, spricht kaum und zeigt keine Emotionen. Der 17-Jährige ist Autist.
Mit 14 Jahren bekommt Luis die Diagnose Autismus. Genaue Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland gibt es nicht. Bislang kommen die meisten Forschungen aus dem amerikanischen Raum. Derzeit wird laut dem Bundesverband Autismus Deutschland eine weltweite Prävalenz - also die Häufigkeit einer Krankheit - von 0,6 bis ein Prozent angenommen. Studien zeigen, dass Jungen häufiger betroffen sind als Mädchen.
Was ist Autismus?
- neurologische Entwicklungsstörung
- Formen: Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, Atypischer Autismus
- Kernsymptome: wiederholende Verhaltensroutinen, Probleme im sozialen Umgang mit Menschen, Sprachschwierigkeiten
- Bislang keine medizinischen Therapien zur Heilung
- Ursachen: bisher nur Risikofaktoren bekannt, zum Beispiel Genetik oder Vorerkrankungen der Eltern
Für Mutter Stephanie Klien beginnt nach der Diagnose ein mühsamer Kampf. Monatelang wartet sie auf Termine bei Psychologen. Auch in der Schule läuft es nicht gut. Luis bricht die Schule ab und hält auch bei vielen Praktikumsstellen nicht durch. Der 17-Jährige zieht sich immer mehr zurück. In ihrer Verzweiflung spricht Luis' Mutter das Ehepaar Born an und fragt, ob der Junge ein Praktikum bei ihnen auf dem Hof machen könnte. Die Borns sagen ja. "Ich glaube, ich habe mich auf ihn eingelassen und er sich auf mich. Dann klappt das", sagt Jochen Born.
"Gemeinsam sind wir Vielfalt" - Aktionstag im WDR
Am 28. Mai 2024 stellt der WDR die Themen Inklusion und Leben mit Behinderung in den Fokus. Bei dem Aktionstag machen verschiedene Programme mit: Im WDR 2 Morgenmagazin ist beispielsweise die Inklusions-Aktivistin Fabiana Kühl zu Besuch. Das Doku-Format "Menschen hautnah" begleitet im WDR-Fernsehen Marie. Die 23-Jährige hat das Down-Syndrom und will ein Leben führen, wie alle anderen.
Auf ihrem Rundgang über die Weide entdecken Luis und Born ein kleines Kälbchen, das erst vor wenigen Stunden auf die Welt gekommen ist. Es hat sich im Unterholz versteckt. "Es muss trinken", sagt der 54-Jährige und schnappt sich das Tier. Doch Rindermutter Fabel geht auf Abstand, will nichts wissen von ihrem Nachwuchs. "Das wird schon", ist sich der Landwirt sicher. "Es ist nicht Fabels erstes Kälbchen. Manchmal braucht es Zeit."
Zeit brauchten auch Luis und Born. Worte sind nicht Luis' Sprache. Bis heute nicht. Die beiden mussten einen ganz eigenen Umgang miteinander finden. "Luis braucht eine klare Bezugsperson. Und die hat er in Jochen gefunden. Er gibt ihm Halt und Sicherheit", sagt Mutter Stephanie Klien. Sogar Essen und Trinken nimmt er von den Borns an. "Wir erzählten Luis' Mutter davon. Sie war ganz überrascht und meinte: 'Luis isst und trinkt doch nur zu Hause.' Das ist ein wirklich großer Schritt, den wir geschafft haben", sagt Born.
Zusammen fahren er und Luis mit dem Traktor zurück zum Hof. Der Landwirt will versuchen, dass Luis nach Ende des Jahrespraktikums bei ihnen bleiben kann – als Landwirtschaftlicher Helfer. Denn für alle ist klar: Luis hat seinen Platz gefunden. Da ist sich auch seine Mutter sicher, "er ist glücklich, dass hier Menschen sind, die ihn nehmen, wie er ist. Er ist angekommen."
Über dieses Thema berichteten wir auch im WDR-Fernsehen am 12.04.2024: Lokalzeit aus Südwestfalen, 19.30 Uhr.