Tuğba Tekkal spielt "Eckchen" mit ihren Spielerinnen

Nach der Flucht: Dank Fußball zu mehr Selbstbewusstsein

Köln | Heimatliebe

Stand: 08.09.2023, 15:33 Uhr

Die Schwestern Maisa und Maisun sind mit ihrer Familie aus dem Irak nach Deutschland geflüchtet. Anfangs fühlten sie sich hier oft fremd und perspektivlos. Das Kölner Fußball-Projekt "Scoring Girls" hat das geändert.

Von Martin Henning (Text) und Sabine Büttner (Multimedia)

"Näher zusammen", sagt Trainerin Tuğba Tekkal. Die Schwestern Maisa, 16, und Maisun, 15, rücken zusammen. Warten auf das Signal. "Und hepp!", ruft Tekkal und klatscht in die Hände. Maisa und Maisun springen hoch, geben sich dabei einen leichten Bodycheck mit ihren Schultern und sprinten bis zur Grundlinie durch. Die ganze Zeit haben sie ein Lächeln auf den Lippen.

Auf dem Kunstrasenplatz direkt neben dem Stadion des 1. FC Köln treffen sich Mädchen ganz unterschiedlicher Herkunft und Glaubensrichtung, um Fußball zu spielen. Einmal pro Woche haben die Mädchen Training bei den Scoring Girls. Hier gibt es keinen Leistungsdruck. Scoring Girls ist kein klassischer Fußballverein, sondern ein Projekt für Mädchen, die sonst von diesem Sport ausgeschlossen werden. Trotzdem wird auch hier ambitioniert trainiert. Torschuss- und Spielübungen stehen genau so auf dem Programm wie Koordination und Ausdauer.

Viele der Mädchen haben in ihrer Heimat Krieg erlebt, mussten nach Deutschland fliehen. Doch oft ist es schwer Anschluss zu finden. Das Fußball-Projekt "Scoring Girls" soll das ändern. Mit Tuğba Tekkal als Mentorin. Die 38-Jährige ist zwar in Deutschland geboren, kennt aber viele der Probleme selbst.

Was Tuğba Tekkal in Deutschland erlebt hat

00:17 Min. Verfügbar bis 07.09.2025

Maisa und Maisun sind mit ihrer Familie 2014 aus dem Irak geflüchtet. Als Jesiden waren sie in großer Gefahr, dem Völkermord des sogenannten Islamischen Staates (IS) zum Opfer zu fallen. Ihr Heimatland mussten sie Hals über Kopf verlassen. Heute leben sie zu siebt in einer Vier-Zimmer-Wohnung am Kölner Stadtrand.

Der Völkermord an den Jesiden und die Folgen

Seit 2014 tötet die Terrororganisation Islamischer Staat im Irak systematisch Jesiden, weil sie diese als "Ungläubige" ansieht. Letzten Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge sind 5000 bis 10.000 Jesiden ermordet und 7000 jesidische Frauen und Kinder (meistens Mädchen) entführt worden. Mädchen und Frauen werden häufig in die Sklaverei verkauft, vergewaltigt und misshandelt. 500.000 Jesiden sind seit Beginn des Völkermords aus ihrer Heimat vertrieben worden. Etwa die Hälfte davon ist nach Deutschland geflüchtet.

Maisa und Maisun haben ihre Trainerin zum Kaffeetrinken nach Hause eingeladen. Wie ihre Spielerinnen ist auch Tuğba Tekkal Jesidin. Der gemeinsame Glaube schweißt zusammen. Alle sitzen am Wohnzimmertisch und sprechen über die traumatische Flucht der Familie:

Die Flucht aus dem Irak traumatisierte die Familie

00:30 Min. Verfügbar bis 07.09.2025

"Ich habe bei den Scoring Girls alle meine Ängste verloren, die ich durch den Krieg bekommen habe. Hier fühle ich mich frei", sagt Maisa. Am Anfang habe sie in Deutschland oft Ablehnung erfahren, erzählt die 16-Jährige. "Manche sprechen dich an und sagen, du gehörst hier nicht dazu. Geh' zurück in dein Land. Das will man nicht hören", sagt Maisa. Ihre Stimme bricht. "Wir wären natürlich auch lieber in unserem Land geblieben und nicht gekommen. Aber wir hatten keine Wahl."

Kölner Projekt ist mehr als nur Fußball

Durch den Fußball hat sie Kraft geschöpft und gelernt, an sich zu glauben. Genau so wie ihre jüngere Schwester. "Ich habe am Anfang mit niemandem geredet, auch nicht in der Schule", erzählt Maisun. "Als ich bei Scoring Girls angefangen habe, habe ich mich geöffnet und Freunde gefunden."

Mädchen der Initiative "Scoring Girls" in der Kletterhalle

Auch Klettern gehört zu den Freizeitaktivitäten bei "Scoring Girls"

Das Projekt ist mehr als nur Fußball. Bewerbungen schreiben, Hausaufgaben in der Schule - die Mädchen bekommen bei Scoring Girls auch dafür Unterstützung. In den Ferien bietet das Projekt mehrtägige Camps an, dann geht es zum Beispiel in den Kletterpark. Für ein Mädchen beantrage man gerade die deutsche Staatsbürgerschaft, sagt Tekkal.

Widerstand aus der eigenen Familie

Maisas und Maisuns Eltern haben kein Problem damit, dass ihre Töchter Fußball spielen. Anders als andere Eltern, deren Kinder bei den Scoring Girls angefangen haben. "Viele haben Angst vor der Entwurzelung der Kinder. Angst davor, dass sie die Sprache verlernen. Davor, dass die Kinder vergessen, wo sie herkommen", sagt Trainerin Tekkal. "Diese Ängste müssen wir den Eltern nehmen."

Tuğba Tekkal beim 1. FC Köln

Tuğba Tekkal 2010 im Trikot des 1. FC Köln

Die 38-Jährige hatte selbst mit Widerstand aus der eigenen Familie zu kämpfen. Fußball sei ein Jungen- und kein Mädchensport, sagten ihre Eltern. Weil sie es nicht durfte, spielte sie irgendwann heimlich. Und kickte so gut, dass sie Profi beim 1. FC Köln wurde. 2015 stieg die Frauenmannschaft ungeschlagen in die Bundesliga auf. "Das war einer der schönsten Tage meines Lebens", sagt Tekkal.

Scoring Girls hat sogar Standorte im Irak

Zeitgleich griff der IS im Irak, der Heimat ihrer Eltern, die Jesiden an und tötete tausende Menschen. Für Tekkal prallten mit der Meisterschaft und dem Terror zwei Welten aufeinander. Nachdem sie 2017 ihre Profikarriere beendete, entschloss sie sich, nicht länger zuzuschauen. Mit drei Schwestern gründete sie die Menschenrechtsorganisation "Hawar Help", übersetzt "Hilferuf".

Fußballplatz von Scoring Girls im Irak

Scoring Girls hat in zwei irakischen Flüchtlingslagern Fußballplätze errichtet

Scoring Girls ist Teil der Organisation. Mittlerweile wird die Initiative unter anderem vom DFB und dem 1. FC Köln unterstützt. Es gibt Standorte in Köln, in Berlin und in zwei jesidischen Flüchtlingslagern im Irak. Vor kurzem ist ein weiterer Standort in der irakischen Stadt Dohuk dazugekommen. In der Halle eines Sportvereins will die Initiative regelmäßig Fußballtrainings für Mädchen anbieten.

Nationalmannschaft? Warum nicht!

Trainerin Tekkal sieht, dass ihre Arbeit Früchte trägt - auch in Köln. "Was mir besonders gut gefällt, ist die Entwicklung der Mädchen. Die Ziele und Träume sind andere geworden. Sie träumen nicht mehr davon, Arzthelferin zu sein, sondern Ärztin. Das zeigt, was der Fußball bewirken kann."

Auch Maisa und Maisun wollen hoch hinaus. Mal für die deutsche Frauen-Nationalmannschaft auflaufen? Warum nicht! Scoring Girls hat ihnen das Selbstvertrauen gegeben. "Das hier bedeutet mir alles", sagt Maisa. Dann tritt sie zum Elfmeter an - und jagt den Ball mit dem Vollspann ins Netz.

Über das Thema haben wir am 09.08.2023 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Köln, 19.30 Uhr.