Gelebte Utopie - Wenn Frauen die Kunstwelt erobern
Stand: 02.07.2024, 07:10 Uhr
Marianne Pitzen eröffnet in Bonn das weltweit erste Frauenmuseum. Damit löst sie eine ganze Initiative für Frauenmuseen rund um den Globus aus. Aber wer ist diese Frau?
Von Mirjam Ratmann
Das weltweit erste Frauenmuseum
Marianne Pitzen ist acht Jahre alt, als sie das erste Mal Wachsmalstifte in die Hand nimmt. Gemeinsam mit ihrer Mutter sitzt sie in einem Café in der Nürnberger Innenstadt. Die Stadt ist noch immer von Krieg zerstört, die Wiederbaumaßnahmen gehen Mitte der 1950er Jahre nur langsam voran. Pitzen ist fasziniert von dem regen Stadtleben, aber vor allem von den in weiten Kleidern gehüllten und mit Handschuhen bekleideten Frauen, "Bräute", wie sie sie nennt. Sie beginnt, die Frauen zu malen, "die waren ja viel spannender als die Männer", sagt die heute 76-Jährige.
Inzwischen ist die zierliche Frau stets in Schwarz gekleidet, in etwas anderem fühle sie sich nicht wohl. Selbst ihre Augen sind schwarz umrundet. Seit sie 17 ist, dreht sich Pitzen ihre, inzwischen grau-blonden Haare, jeden Tag auf beiden Seiten des Kopfes zu zwei Haarschnecken zusammen und macht diese mit fünf Haarklammern fest. "Ein bisschen Struktur brauche ich wohl also doch", sagt sie. Ein wenig erinnert sie in dieser Erscheinung an Prinzessin Leia Organa aus "Star Wars" - wie sie kämpft auch Pitzen für eine gerechtere, bessere Welt. Und stets für ihr Museum.
Am 2. Mai 1981 gründete sie in Bonn, gemeinsam mit ihrer Frauengruppe "Frauen formen ihre Stadt", das weltweit erste Frauenmuseum: Ein Museum, das auf drei Etagen ausschließlich Kunst von Frauen ausstellt. Über 3.000 Künstlerinnen in knapp 1.000 Ausstellungen hat das Museum bisher präsentiert. In der Bonner Altstadt weisen einem Schilde den Weg zum Museum, vor dem Eingang zum Hof ragt ein rosarotes Plakat mit der Aufschrift "Frauenmuseum" über die Straße.
Das Museum zeigt Werke von Künstlerinnen
Pitzens Museum gab den Anstoß für eine Frauenbewegung in der Kunstszene weltweit: Nicht nur in Europa, auch in asiatischen und afrikanischen Ländern gründen sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten Frauenmuseen - nicht alle konnten sich halten. Der Internationale Verein für Frauenmuseen listet derzeit über 90 Frauenmuseen und Initiativen. 2009 kamen sie in Bonn zur zweiten Konferenz des Vereins zusammen. Bis heute ein Highlight für Pitzen, die das Museum seit über 40 Jahren leitet. Bereits 1998 bekam sie für ihr Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Beinahe jeden Tag kommt sie in ihr Frauenmuseum, wenn sie nicht gerade in der Welt unterwegs ist. Am liebsten ist sie in ihrem Atelier im dritten Stock, das voll steht mit orangen, blauen und grünen Matronen-Skulpturen. Zu Hause sei sie selten. "Ach, das ist ja viel zu langweilig", sagt sie und kichert dabei wie ein kleines Mädchen, das gerade einen Streich gespielt hat. Bis heute hat die 76-Jährige nicht damit aufgehört, Frauen ins Zentrum ihrer Kunst zu stellen: zunächst mit Wachsmalstiften, später mit Acrylfarben und Buntstiften. Jeden Pfennig habe sie als junges Mädchen gespart, um sich die Farben leisten zu können, erzählt Pitzen. Inzwischen arbeitet sie schon seit Jahren mit Zeitungspapier, aus dem sie Matronen-Figuren formt, sogenannte Muttergottheiten der keltischen, römischen und germanischen Religion. In der Bonner Kunst- und Frauenszene gilt Pitzen als Ikone.
Weibliche Kunst-Vorbilder fehlen in Museen
Als Teenagerin liest Pitzen nächtelang in Kunstbüchern über Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker und Angelika Kaufmann. Doch in den Kunstmuseen, durch die sie wandelt, findet sie nie auch nur ein Bild ihrer Vorbilder. "Künstlerinnen haben damals in der Kunstwelt gar nicht stattgefunden", sagt Pitzen. Trotzdem hält es sie nicht davon ab, selbst Künstlerin zu werden. "Beim Malen erschafft man sich täglich seine eigene Welt, seine eigene Utopie - das wollte ich nach außen tragen".
Mit welchem Material Marianne Pitzen am liebsten arbeitet
00:29 Min.. Verfügbar bis 02.07.2026.
Schon in der Schule hat sie ihre ersten Ausstellungen, mit dem verdienten Geld kauft sie sich Stifte und Malblöcke. Der Unterricht wird zur Nebensache. Wenn morgens früh um 5 Uhr die Sonne aufgeht, fährt sie mit dem Rad raus in den Kottenforst, setzt sich hin und malt. Bauern, die in der Gegend ihre Felder bewirtschaften, legen ihr Obst und Gemüse in den Fahrradkorb.
Das Kunststudium an der Kunstakademie in Düsseldorf ist ihr zu elitär. Stattdessen heiratet sie, wird Mutter und eröffnet 1972 gemeinsam mit ihrem Mann die Galerie "Circulus" in der Bonner Südstadt. Parallel dazu stellt sie im kurfürstlichen Gärtnerhaus in Bonn erstmals ihre Werke aus: Comicartige Wimmelbilder, die Matriarchate abbilden, also Gesellschaften, in denen Frauen politische Macht und Einfluss haben. Dieser Utopie ist Pitzen bis heute treu geblieben. Sowohl künstlerisch als auch politisch.
Marianne Pitzen stellt eins ihrer Bilder vor
00:32 Min.. Verfügbar bis 02.07.2026.
Nicht nur Künstlerin, sondern auch politische Aktivistin
In den 1960er und 1970er Jahren beteiligt sie sich an Protesten gegen Gewalt an Frauen und fordert öffentlich mehr Frauen als Bundestagsabgeordnete. Dafür blockiert sie Parteizentralen und diskutiert mit hochrangigen Politikern. Bei der Kunstausstellung documenta in Kassel fordert sie in den 1990ern vom damaligen Leiter, endlich eine Frau als Chefin zu bestimmen und mehr Künstlerinnen zu präsentieren - die nächste documenta hat erstmals eine Frau als Kuratorin. Gegen den Golfkrieg demonstriert sie 1992, indem sie, gemeinsam mit anderen Frauen, Figuren auf Bahren durch die Bonner Innenstadt trägt. Auf dem Münsterplatz legen sie die Figuren ab. Sie sollen an die Toten des Krieges erinnern. Die Stadt sei lahmgelegt gewesen, erzählt Pitzen rückblickend, viele hätten geschimpft. Doch Pitzen macht nichts, um zu gefallen, höchstens um aufzufallen.
Fortwährender Einsatz für die feministische Sache
Als die Finanzierung des Frauenmuseums 2018 auf der Kippe steht, mobilisiert Pitzen deutschlandweit die Kunstszene, um das Museum zu retten. Dank großzügiger Spenden kann "Frauen formen ihre Stadt" Ende 2018 das Museumsgebäude, das sie bis dato von der Stadt Bonn nur gemietet hatte, für eine halbe Million Euro kaufen. "Mein größtes Anliegen ist, dass es immer so weitergeht", sagt Pitzen. Im kommenden Jahr soll die Frauenperspektive auf das Ende des Zweiten Weltkrieges, das sich 2025 zum 80. Mal jährt, im Fokus des Museums stehen.
Die Skulptur einer nackten Frau, die flache Hand schützend über den Kopf erhoben, die andere beschämt vor dem Schritt, verabschiedet einen, wenn man das Frauenmuseum verlässt. Das Mahnmal gegen Gewalt an Frauen wurde zum Frauentag im März 2020 eingeweiht. Es zeigt sinnbildlich, für was Pitzen und das Museum stehen: den Kampf für mehr Sichtbarkeit von Frauen und für die feministische Sache. In der Kunst und darüber hinaus.