Erinnern an ehemalige Schüler
Als der jüdische Vorsänger seine Stimme erhebt, bricht die Sonne zwischen den Bäumen hervor. Der sogenannte Kantor beginnt mit dem Kaddisch, dem jüdischen Totengebet. Um ihn herum hat sich ein Halbkreis aus Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern gebildet. Eben haben sie noch durcheinander geredet, nun lauschen sie seinem Gesang.
Unter die Zeilen, die er singt, mischt sich ein kratzendes Schaben. Zu den Füßen des Kantors wird mit einem Besen Erde in die Löcher der verlegten Stolpersteine verteilt. Kurz unterbricht der Kantor sein Gebet und spricht die Namen aus, die auf den Stolpersteinen stehen: "Sally Michel, Jakob Leffmann, Otto Meyer, Wilhelm Herz." Wie insgesamt 11.000 Kölner Jüdinnen und Juden wurden auch die Vier in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ermordet. Und sie waren Schüler am Gymnasium Kreuzgasse westlich der Kölner Innenstadt.
"Was wir hier tun, ist nicht nur Arbeit an der Vergangenheit, sondern auch an der Gegenwart und der Zukunft. Wir setzen damit ein Zeichen gegen rechts", sagt Vivien Slippens. Die 16-Jährige engagiert sich seit zwei Jahren in der Schul-AG "Erinnerungskonzept", die die Stolpersteinverlegung organisiert. "Es ist wichtig, darüber zu reden, dass es diese Mitschüler gab und sichtbar machen, was passiert ist." Die Aktion ist einzigartig in der Kölner Schullandschaft. 2023 gewann das Projekt den Kölner Heimatpreis.
Initiator Gunter Demnig verlegt Stolpersteine
Vor dem Gymnasium Kreuzgasse erinnern mittlerweile 50 Stolpersteine an ehemalige Schüler. Unter den Ermordeten sind jüdische Menschen, ebenso wie Widerständler oder Homosexuelle. Die wenigsten haben überlebt.
Holocaust-Gedenktag am 27. Januar
Jedes Jahr am 27. Januar wird weltweit an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. An diesem Tag befreiten im Jahr 1945 sowjetische Soldaten die Gefangenen im Vernichtungslager Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen wurden dort von den Nationalsozialisten ermordet. Insgesamt starben durch die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten mehrere Millionen Menschen. Zu den Verfolgten des Regimes gehörten größtenteils Juden, unter anderem aber auch Sinti und Roma, Homosexuelle und behinderte Menschen.
Für die Verlegung der Stolpersteine ist Gunter Demnig zuständig. Dazu hat der Künstler die Pflastersteine ausgehoben und schabt die Löcher zurecht. Er hebt Sand heraus, legt die Stolpersteine in die Löcher und schlägt sie mit einem Gummihammer fest.
Jedes Jahr verlegt der Künstler vor dem Haupteingang des städtischen Gymnasiums Kreuzgasse Stolpersteine. Doch Demnig ist nicht nur für die Stolpersteine am Gymnasium verantwortlich, sondern auch für die Idee der international bekannten Aktion.
Seit 1992 erinnert der Künstler mit der Initiative an Opfer des NS-Regimes. Über 90.000 Stolpersteine wurden seither europaweit verlegt - dort, wo die Opfer wohnten oder wirkten. In Köln liegen 2400 Stolpersteine, in NRW sind es über 15.000. Demnigs Projekt gilt als das größte dezentrale Denkmal der Welt. Weitere Informationen rund um die Stolperstein-Initiative in NRW findest du auf dieser Seite.
Vom Leben und Tod im Nationalsozialismus
Bei dem Schulprojekt geht es nicht nur um die Verlegung der Stolpersteine. "Durch die AG lernen wir die ehemaligen Schüler kennen und welche Lebenswege sie eingeschlagen haben. Es waren Schüler wie wir, die aus dem Alltag gerissen wurden," sagt Marissa Al-Wahabi. Die 18-Jährige hat dieses Jahr Abi gemacht und war zwei Jahre in der AG aktiv.
Geschichtslehrerin Silke David leitet die AG seit 2012. Um mehr über die Opfer zu erfahren, kontaktiert David Archive und Gedenkstätten und pflegt einen engen Austausch mit dem Kölner NS-Dokumentationszentrum. Aus den gesammelten Informationen schreibt sie einen Text, der das Leben der Opfer möglichst detailgenau beschreibt. Die Schülerinnen und Schüler vertonen das Ganze anschließend.
Um kurz nach 12 Uhr wird es in der Schulaula des Gymnasiums ruhig. Jacken rascheln, Holzstühle knarzen. Kurz darauf ist es dunkel bis auf eine Leinwand auf der Bühne. Eine schwarze Schrift auf grünem Hintergrund erscheint: "Die Kreuzgasse erinnert an Willy Herz, Sally Michel, Dr. Otto Meyer, Jakob Leffmann."
Auf der Leinwand erscheinen Karten mit den Vernichtungslagern, Geburtsurkunden, Eintragungen in das Schulverzeichnis oder Deportationsaufrufe. Währenddessen schallen die Stimmen der Schülerinnen und Schüler der AG durch den Raum. Sie erzählen die Geschichten der Getöteten. Von ihrem Leben vor und während der NS-Zeit, von ihrer Deportation und ihrem Tod. Teilweise gibt es Bilder von ihnen. Manchmal werden die Wohnhäuser eingeblendet, in denen sie wohnten.
NS-Regime riss Opfer aus dem Alltag
Otto Meyer beispielsweise, gebürtiger Kölner, war renommierter Arzt. Als Jude verlor er nach der Machtübernahme die Erlaubnis, seinen Job weiter auszuüben. 1941 wurde er ins Ghetto Lodz/Litzmannstadt in Polen deportiert, wie rund 2000 andere Jüdinnen und Juden aus Köln. Meyer starb vermutlich 1943. Nach Recherchen des NS-Dokumentationszentrums in Köln überlebten nur 25 der von den 2000 aus Köln ins Ghetto Litzmannstadt verschleppten Menschen das Ghetto. "Uns ist wichtig, dass unsere Mitschüler erfahren, dass diese Opfer Menschen waren, nicht nur irgendwelche Zahlen", sagt Marissa.
Gerade deswegen ist dieser Mittag auch für den 79-jährigen Albert Herz ein besonderer Moment. Er ist extra aus Zürich angereist. Denn Demnig hat heute einen Stolperstein für seinen Großonkel, Wilhelm Herz, verlegt. Dieser machte am Gymnasium Kreuzgasse seinen Realschulabschluss. Und wurde in Auschwitz ermordet.
Die Geschichte lebendig halten
Regelmäßig besuchen Verwandte von Opfern die Stolpersteinverlegung am Gymnasium, sogar aus den USA. 2023 ergab sich ein Austausch mit einer israelischen Schulklasse, die nach Köln kam. Anschließend reisten die Schülerinnen und Schüler der Kreuzgasse nach Jerusalem und besuchten die internationale Holocaustgedenkstätte Yad Vashem.
Schul-AG stärkt Bewusstsein für Antisemitismus
Für die Mitwirkenden ist die Auseinandersetzung mit den Schicksalen der getöteten Schüler sehr emotional. "Im Geschichtsunterricht ist vieles davon sehr abstrakt. Durch die AG kommen wir den Opfern viel näher", sagt Vivien. Für Mitschülerin Marissa ist das ein Ansporn: "Ich sehe darin den Anreiz, dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert." Einige aus der AG erzählen, dass sie im Alltag nun aufmerksamer und sensibler gegenüber antisemitischen Äußerungen und Diskriminierung im Allgemeinen seien. Und sie ein anderes Bewusstsein dafür hätten, welche Gefahr von rechtsextremen Kräften ausgehe.
Gegen 13.30 Uhr ist für viele Schülerinnen und Schüler an diesem Tag die Schule aus. Eben haben Vivien und andere AG-Mitglieder noch rote Rosen niedergelegt. Jetzt laufen einige direkt über die neuen Stolpersteine, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Andere stocken, fragen: "Darf man da einfach drüber laufen?", und machen dann einen großen Schritt.
Manche Schüler bleiben stehen, schauen nach unten. "Welche sind die neuen?" Jemand verweist auf das Banner, das neben dem Haupteingang steht und die Stolpersteine abbildet. Daneben ein QR-Code, den man scannen und dann die Geschichte der jeweiligen Opfer anhören kann - auf Deutsch, Englisch, Französisch und Türkisch.
In diesem Jahr verlegt Demnig voraussichtlich ein letztes Mal Stolpersteine vor dem Gymnasium Kreuzgasse. Doch die Erinnerungsarbeit ist damit nicht vorbei: Ein Gedenkraum soll entstehen, mit Dokumenten und Bildern der Opfer. Vivien bestärkt: "Wir wollen nicht, dass das Erinnern aufhört."