2500 Menschen müssen gehen
Vor etwa 68 Jahren wurde das Sauerland durch die damals größte Baustelle Europas umgeformt: Der Biggesee entstand. Ein riesiges Stauwerk, das Menschen aus ihren Heimatdörfern vertrieb und die Landschaft im südlichen Sauerland komplett veränderte. Einer derjenigen, die das hautnah erlebten, ist Alberto Zulkowski. Damals noch ein Kind, aufgewachsen in Listernohl, erlebte er, wie sein Zuhause und vertraute Orte im Wasser verschwanden.
In den frühen 1960ern wurde das Tal zur Großbaustelle. Die Bauarbeiten für die Biggetalsperre prägten das ganze Tal. Überall waren Bauarbeiter, riesige Maschinen bewegten Erdreich, unzählige Bäume wurden gefällt und Häuser abgerissen. Mehr als 2.500 Menschen lebten in den Dörfern und Weilern des Tals. Alle in dem Wissen: Bald kommt das Wasser. Die Dörfer wurden damals umgesiedelt. In neu gebaute Dörfer oder Stadtteile rund um Attendorn und Olpe.
Am Abend des 4. November 1965 wurde im Sauerland dann ein Kapitel der Heimatgeschichte geschlossen: Die Fluten des Biggesees begannen, das Tal zu bedecken.
Zurückblickend beschreibt Zulkowski das Leben im Tal vor der Flutung: Er mochte das Leben dort sehr, erzählt der 74-Jährige. Bis 1963 lebte er mit seiner Familie in Listernohl, also bis zwei Jahre vor der Flutung. Jeder kannte jeden. Das Dorf sei eine Gemeinschaft gewesen, mit vielen Vereinen, einer Kneipenkultur, schönen Gassen mit Fachwerkhäusern, kleine Lebensmittelläden, Flüssen, die durch das Tal fließen und vielen Höfen. "Die Landschaft war einfach sehr schön." Ängste gab es da selbstredend, als das Ausmaß und die Endgültigkeit der Umsiedlung klar wurden.
Neue Häuser für eine alte Gemeinschaft
Proteste gegen das Bauvorhaben gab es. Die waren aber eher leise und friedlich. Zu lange waren die Pläne bereits bekannt und viele, das vermutet Zulkowski, wussten wahrscheinlich, dass die Talsperre unumgänglich ist. Erst sollten die Leute aus den Orten, die im Biggetal geflutet werden sollten, in die angrenzenden Innenstädte von Olpe, Attendorn oder Rhode umgesiedelt werden.
Noch bevor die Flutung begann, hatte sich die Interessengemeinschaft Biggetal dafür eingesetzt, dass die Dörfer so gut es ging zusammenbleiben konnten. Die Siedlungen Sondern und Neu-Listernohl entstanden. Die Dorfgemeinschaft blieb zusammen. Zulkowski findet, das ist gut gelungen. "Das hat vielen und auch mir bei der Eingewöhnung sehr geholfen."
"Für die Älteren im Dorf war die Umsiedlung schon eine Vertreibung aus der Heimat", sagt Zulkowski. Doch er konnte schon damals als Jugendlicher auch die Vorteile sehen. "Wir hatten die Möglichkeit, in ein moderneres Haus zu ziehen, das wäre ohne die Entschädigungszahlungen nicht so einfach möglich gewesen." Noch heute lebt er in dem Neubau von damals in Neu-Listernohl. 1963 zog Zulkowski mit seiner Familie dort ein. Auf der Terrasse sitzend und in den Büchern über den See lesend erinnert sich der Rentner noch genau an seinen letzten Tag im Biggetal. Er war damals 14 Jahre alt und mitten in der Ausbildung in einer Schraubenfirma.
Doch es gab auch zähere Talbewohner, die sich weniger leicht von ihrem Zuhause trennen konnten. Daran erinnert sich Zulkowski auch. "Franz Schnütgen war der letzte Bewohner hier im Tal." Er verließ Weihnachten 1966 sein Haus, während das Wasser bereits in seinem Garten gluckerte. So steht es im Buch "Im Biggetal". Er sei nie Freund der Talsperre geworden, doch am Ende traf ihn dasselbe Schicksal wie alle anderen: Er musste umziehen, um dem Wasserbedarf des Ruhrgebiets zu weichen.
- Vom Tagebau verschluckt: Auch in Lützerath mussten Menschen ihre Häuser verlassen.
Bis heute ist die Biggetalsperre, eine der größten Talsperren Deutschlands, auch ein wichtiger Schutz vor Hochwasser. Ein Wasserkraftwerk erzeugt zusätzlich etwa 22 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr. Damit können im Schnitt 6.300 Haushalte in Deutschland mit Strom versorgt werden.
Was es mit dem Biggepfennig auf sich hat
Im Einzugsgebiet um die Ruhr wurde vor dem Bau der "Biggepfennig" erhoben, um zur Finanzierung der Talsperre und der neu zu errichtenden Dörfer beizutragen. Ursprünglich waren 220 Millionen D-Mark für die Gesamtkosten veranschlagt. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe schreibt jedoch, dass die Baukosten inklusive Zinsen bis 2010 bei etwa 250 Millionen Euro lagen.
Zurück in der Gegenwart erinnert sich Zulkowski an den Neubeginn, als sie damals in das neue Haus einzogen. "Da war noch längst nicht alles fertig. Straßen mussten noch gebaut werden, es gab noch keinen Sportplatz und die Kirche stand auch noch nicht." Und doch schaffte es der damals 14-Jährige, sich gut einzugewöhnen. "Ich konnte viele der damals Älteren verstehen. Für die war der gezwungene Umzug hart. Aber ich habe das neue Haus und die eher vorstädtische Lage als Aufstieg gesehen. Die Nachbarn oder zumindest die Leute im Dorf blieben auch die Gleichen, das machte Vieles leichter", sagt Zulkowski.
Heute, wenn Zulkowski zum Biggedamm spazieren geht, verspürt er keinen Wehmut. "Der See gehört nun zur Landschaft des Sauerlands - als sei er schon immer dagewesen." Mit einer Geschichte, die sich rund um den Biggesee noch heute erzählt wird, will Zulkowski noch aufräumen: "Dass damals viele verlassene Häuser einfach stehengelassen wurden und dann im Wasser verschwunden sind, ist ein Mythos. Da stand noch ein einziges Haus am heutigen Uferrand. Der Rest wurde abgerissen oder verbrannt." Ein Tauchgang im Biggesee führt also nicht wirklich zu versunkenen Dörfern.