Links steht ein junges Mädchen mit einer aufgeschlagenen Urkunde in den Händen, rechts von ihr klatscht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Warum eine 16-jährige Dortmunderin den Bundespräsidenten getroffen hat

Dortmund | Heimatliebe

Stand: 06.01.2024, 08:03 Uhr

Valérie Raillon liebt ihren Stadtteil Dortmund-Hörde. Aus Neugier recherchiert sie zu einer längst vergessenen Hörder Arbeitersiedlung, auf die sie nur zufällig aufmerksam wurde. Am Ende führt sie ihre Spurensuche sogar bis nach Berlin.

Von Sebastian Tischkov

Sonntags ist es ziemlich still, rundherum um Phoenix-West in Dortmund. Vor gut 25 Jahren muss es hier noch bedeutend lauter gewesen sein. Metalle und Stahl wurden im Hochofen produziert. Wo einst die Dortmunder Industrie florierte und Stahl in die ganze Welt lieferte, erinnert heute nur noch das Gerippe der Fabrik an die goldenen Zeiten. Mitten im Nichts am Stadtrand.

Quasi um die Ecke wohnt Valérie Raillon mit ihrer Familie im Dortmunder Stadtteil Hörde. Die 16-Jährige ist beeindruckt von der riesigen ehemaligen Industriekulisse. Sie steht an einem Sonntagnachmittag vor ihren Überresten und inspiziert sie genau, obwohl sie schon unzählige Male mit ihrem Hund an Phoenix-West vorbeigelaufen ist. Bei einem ihrer Gassi-Spaziergänge trifft sie genau dort einen älteren Spaziergänger.

Die ehemalige Hochofen-Anlage auf Phoenix-West

Die fast 100 Meter hohe, stillgelegte Hochofenanlage ist zur Dortmunder Landmarke geworden.

Einer vergessenen Siedlung neues Leben einhauchen

Sie unterhalten sich über die kleine Halde, die irgendwann mal schräg gegenüber aufgeschüttet wurde. Das ist sozusagen ein Mini-Hügel, von denen es im Ruhrgebiet viele gibt. "Tatsächlich hat er mir dann erzählt, dass dort früher eine Siedlung war. Und das hat sich mir nicht erschlossen: Warum hat man eine Siedlung aufgegeben, um da einfach einen riesigen Erdwall hinzubauen?", fragt sich Valérie.

Ihre Neugier ist geweckt und ihre Mission ist klar: Mehr herausfinden über diesen Ort, an dem irgendwann einmal Menschen lebten, über den heute aber nur noch wenig bekannt ist. Die Zehntklässlerin macht sich auf die Suche. In Archiven forscht sie in alten Unterlagen, aber sie recherchiert auch "vor Ort". Viele Anwohner können ihr noch etwas von damals erzählen: "Die Menschen haben mir einen Einblick in eine für mich ganz andere, fremde Zeit gegeben."

So ist Valérie Raillon bei ihrer Recherche vorgegangen

00:45 Min. Verfügbar bis 06.01.2026

Fabrik-Asche überall

Schnell findet Valérie etwas über die Siedlung "Felicitas" heraus - eine Arbeitersiedlung aus dem 19. Jahrhundert für die Menschen, die auf Phoenix-West den Stahl erhitzt haben. Noch näher am Arbeitsplatz wohnen geht eigentlich nicht. Man musste nur über die Straße gehen: "Der Vorteil war, dass sie die Arbeiter auf Abruf hatten, weil sie einfach immer sagen konnten: Wir brauchen euch gerade", erklärt Valérie. Nachteile habe es aber auch genug gegeben, erzählen ihr Zeitzeugen: "Die berichteten zum Beispiel davon, dass, wenn man sich in den Garten gesetzt hat, die Kleidung so ein bisschen dreckig wurde am Kragen. Oder auch, dass weiße Autos immer dreckig waren, von der ganzen Asche." Wäsche draußen aufhängen, war also eher eine schlechte Idee.

Valérie Raillon erklärt anhand von alten Filmaufnahmen, wie die Menschen damals in der Siedlung gelebt haben

00:21 Min. Verfügbar bis 06.01.2026

Wegen der großen Gesundheitsgefährdung sollte die Siedlung dann irgendwann weg. Neue Umweltschutz-Gesetze verlangten mindestens einen Kilometer Abstand zwischen Hochofen und Wohnhäusern. Und die Bewohner? "Die hatten das Gefühl, dass über ihren Kopf hinweg entschieden wurde. Nach dem Motto: Euch geht es schlecht, ihr müsst da weg. Und die haben aber gesagt: Eigentlich geht es uns da gar nicht schlecht", weiß Valérie. 1978 wird die Siedlung geschlossen - und die noch heute bekannte Halde aufgeschüttet.

Ihre Recherchen hat die 16-Jährige für den Geschichtsunterricht aufgeschrieben, über 30 Seiten. Zusammen mit ihrer Lehrerin hat sie ihren Text dann beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten eingereicht - und einen der insgesamt fünf ersten Preise gewonnen.

Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten

Der Geschichtswettbewerb wird seit 1973 von der Hamburger Körber-Stiftung und dem Bundespräsidialamt ausgerichtet. Er findet turnusmäßig alle zwei Jahre statt und richtet sich an junge Menschen in ganz Deutschland. Er geht zurück auf eine gemeinsame Initiative des damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und des Hamburger Stifters Kurt A. Körber. Mit bislang mehr als 150.700 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und rund 34.800 Projekten ist er nach eigenen Angaben der größte historische Forschungswettbewerb für junge Menschen in Deutschland. Die fünf ersten Preise sind mit je 2.500 Euro dotiert.

Zu Besuch im Schloss Bellevue

Ende November hat Bundespräsident Steinmeier zur feierlichen Preisübergabe ins Schloss Bellevue eingeladen. "Das war für mich eine sehr große Ehre. Aber ich war vor allen Dingen aufgeregt, weil wir auf der Bühne auch ein kleines Interview hatten", erinnert sich die Schülerin. Vom Bundespräsidenten bekommt sie eine Urkunde überreicht, außerdem gewinnt sie ein Preisgeld von 2.500 Euro. Und das Schloss Bellevue von innen zu sehen, sagt Valérie, sei auch ziemlich spannend gewesen.

Zurück in Dortmund, vor dem Gelände von Phoenix-West. Ein älteres Paar sieht Valérie und spricht sie an. Sie hätten von ihrer großen Recherche gehört. Ihre Mission hat die 16-Jährige also erfüllt: Die Siedlung Felicitas ist jetzt ein Stückchen bekannter als vorher.

Über dieses Thema haben wir am 20.11.2023 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit aus Dortmund, 19.30 Uhr.