Wenn der Ruhrpott unter die Haut geht: Erinnerungen für die Ewigkeit
Stand: 28.10.2024, 06:58 Uhr
Hammer und Schlägel, Zechentürme und Bergleute sind der Inbegriff der Bergbau-Tradition im Ruhrgebiet. Und sie sind ein beliebtes Tattoo-Motiv, um die Verbundenheit mit der eigenen Heimat zu zeigen. Der Bergbau ist inzwischen Geschichte. Die entsprechenden Tattoos bald auch? Wie der Verein Tätowierkunst das verhindern möchte.
Von Agata Pilarska
Es gibt Pommes und Currywurst. Wenn der Verein Tätowierkunst schon ein Ruhrpott-Event organisiert, dann mit einer der Kult-Speisen im Pott. Tätowiererin Tanina Palazzolo steht unter einem Pavillon, direkt neben dem Schacht 4/5 der Zeche Auguste Victoria und rührt Currywurstsoße in einem Wärmebehälter um. Neben der 56-Jährigen steht Heiko Gantenberg, der den Verein gegründet hat. Im Schatten der Industriekulisse wollen sie heute ein Fotoshooting veranstalten. Der Verein hat Menschen mit Bergbau-Tattoos aufgerufen, sich für ein Buch fotografieren zu lassen und ihre Geschichte dazu zu erzählen.
Am 21. Dezember 2018 war Schluss mit dem Bergbau im Ruhrgebiet. Als letzte Zeche schloss das Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop. Jahrzehntelang hatte die Industrie die Region geprägt. Die Mentalität der harten Arbeiter, der Zusammenhalt unter Tage - darauf sind auch heute noch viele Stolz. Einige sogar so sehr, dass ihre Liebe zum Bergbau unter die Haut geht. Gantenberg und Palazzolo haben im Laufe der Jahre viele Zechentürme und "Glück auf"-Schriftzüge tätowiert. Gantenberg schätzt, dass es mehrere Tausend Bergbau-Tattoos im Revier gibt. Der 57-jährige Marler allein hat mehr als 100 solcher Motive gestochen. Doch wie lange wird das Interesse noch anhalten?
Welche Geschichte steckt hinter den Bergbau-Tattoos?
"So, wie die Reliquien des Bergbaus nach und nach verschwinden, wird es auch in 50 Jahren diese Tattoos nicht mehr geben", sagt Gantenberg und schaut hinauf zum Zechenturm. In 50 Jahren - da wäre Jannik Daub 81. Er ist zur Zeche gekommen, um sich für das Buchprojekt fotografieren zu lassen. Der Marler hat seinen gesamten linken Arm dem Thema Bergbau gewidmet. Zu jedem Motiv hat er eine persönliche Geschichte.
Jannik Daub erklärt seine Tattoos
00:59 Min.. Verfügbar bis 28.10.2026.
Der 31-jährige Daub hat seine Ausbildung zum Elektriker auf der Zeche Victoria gemacht. Obwohl er wusste, dass er dort nicht lange arbeiten würde. Das Aus für die Zeche stand damals schon fest. 2015 schloss die Zeche. Warum er trotzdem genau hier seine Ausbildung machen wollte? "Aus Tradition", antwortet er sofort. Inzwischen arbeitet er als Gebäudeelektriker.
Abenteuer "unter Tage"
Die Bergbauzeit war immer etwas Besonderes für ihn: "Die Kumpels, der Zusammenhalt. Egal ob Schlosser oder Elektriker, man hat immer zusammen angepackt und alles fertig gemacht, auch wenn die Schicht schon zu Ende war. Und natürlich war unter Tage ein Abenteuer. Du konntest jeden Tag zum gleichen Ort gehen, trotzdem war alles immer wieder anders."
Neben Daub kommt unter anderem auch eine 68-Jährige aus Erkenschwick, die den Zechenturm aus ihrer Heimatstadt auf dem Unterarm trägt, zum Shooting: "Mein Leben war Bergbau. Mein Vater, mein Bruder, meine Familie, mein Wohnort, die Jungs, mit denen ich abgehangen habe", sagt sie.
Inge, 68, aus Erkenschwick
Nicht jeder, der sich fotografieren lässt, hat selbst im Bergbau gearbeitet. Wie zum Beispiel ein 59-Jähriger aus Bochum, der mehrere Bergbau-Tattoos unter seinem Ruhrpott-Pullover trägt. Für ihn symbolisieren Schlägel und Eisen, Grubenlampen und die Worte "Kohle und Stahl" vor allem eins: Heimat.
Ist ein Tattoo Kunst?
128 Menschen, darunter sieben Frauen, lassen sich an diesem Herbstwochenende für das Buch ablichten. Erscheinen soll "Glück auf der Haut" im kommenden Jahr. Finanziert wird es durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Mit dem Projekt will der Verein Tätowierkunst aber nicht nur ein Stück Zeitgeschichte erhalten. Sie setzen sich auch für mehr Wertschätzung von Tätowierern ein.
Eine Forderung des 2018 gegründeten Vereins: Tattoos sollten als Kunst anerkannt werden. "Ich könnte ein Stück Leder bemalen: Das wäre Kunst. Wenn das Leder aber lebt und ein Mensch drinsteckt, ist es keine Kunst mehr?", sagt Palazzolo. Außerdem will sich der Verein für tätowierte Menschen einsetzen, die in einigen Bereichen noch immer mit Vorurteilen zu kämpfen hätten.
Heiko Gantenberg erklärt, wo Menschen mit Tattoos mit Vorurteilen zu kämpfen haben
00:22 Min.. Verfügbar bis 28.10.2026.
Tätowieren gilt als Handwerk, auch wenn es keine staatlich anerkannte Berufsausbildung gibt. Gantenberg und Palazzolo sehen darin viele Nachteile für die meist selbstständigen Tätowierer: Sie können nicht der Künstlersozialkasse beitreten, die künstlerischen Freiberuflern trotz schwankender Gehälter und unregelmäßigen Auftragslagen Versicherungsschutz bieten.
Über dieses Thema haben wir auch am 15.10.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.