Sein, wie man wirklich ist
Ein oranges Tuch mit dem Schriftzug "anyway" hängt an der Wand, daneben eine Regenbogenfahne. Auf einer kleinen Empore steht ein Kicker, im Raum hängen weitere Regenbogenflaggen. Gedimmtes Licht und eine glitzernde Diskokugel an der Decke sorgen für einen Underground-Club-Vibe. Dabei ist das Anyway in erster Linie weder ein Club noch ein Café, sondern ein Jugendzentrum. Und zwar eins, das sich speziell an queere Jugendliche und junge Erwachsene richtet. An Menschen wie Robin Ostendorf.
Seit rund anderthalb Jahren kommt der 18-Jährige aus Leverkusen mehrmals pro Woche ins Anyway. "Ich habe hier schnell ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt", sagt Ostendorf. Als er im Sommer 2021 gemeinsam mit fünf anderen Freunden zum ersten Mal ins Anyway kam, hatte er sich bei seinen Eltern noch nicht geoutet. Auch an seiner Schule habe es lediglich zwei geoutete schwule Menschen gegeben, erzählt er. "Ich war nie sonderlich beliebt in der Schule, aber hier habe ich schnell Freunde gefunden."
Schutzraum seit 25 Jahren
Wie Robin Ostendorf geht es vielen jungen Menschen Deutschland. Zwar steigt die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber queeren Menschen. Gleichzeitig gaben aber acht von zehn queeren Jugendlichen im Rahmen einer bundesweiten Studie des Deutschen Jugendinstituts im Jahr 2017 an, bereits an einem Ort ausgegrenzt, beleidigt, beschimpft oder verspottet worden zu sein.
Somit steigt auch der Bedarf an Schutzräumen – vor allem für trans, inter und nicht-binäre Menschen. 1998 eröffnete das Anyway, als eines der ersten Jugendzentren für queere Menschen in ganz Europa. Inzwischen gibt es in NRW zwar rund 60 solcher Jugendzentren oder Jugendtreffs, aber das Anyway hat bis heute nicht an Wichtigkeit verloren. Rund 1.400 junge Menschen im Alter zwischen 14 und 27 besuchen jedes Jahr das Angebot. Wie schafft es das?
Robin Ostendorf jedenfalls wundert das nicht. "Es ist ein sicherer Raum, in dem man nette Leute trifft und sich geborgen fühlt", sagt er. Wenn es nach Jürgen Piper, dem Geschäftsführer des Anyway geht, erfüllt das Jugendzentrum damit genau den richtigen Zweck. "Wir machen hier aber auch sehr viel Pionierarbeit", sagt er. Wöchentlich bekommt das Anyway Anfragen von Schulsozialarbeitern und Eltern, die überfordert sind, wenn sich ein Kind outet. Auch Führungskräfte oder Mitarbeiter aus anderen Jugendeinrichtungen suchen bei Piper Rat. Deshalb gehören zum Anway neben dem Café, das mit 500 Quadratmeter den größten Teil der Räumlichkeiten einnimmt, auch noch zwei Workshopräume und vier Büros.
Queer zu sein ist immer noch nicht selbstverständlich
Piper spricht von 4.000 jungen Erwachsen und Jugendlichen, die er und seine 13 Mitarbeiter mit den verschiedenen Angeboten des Anyway von Café über Beratungsstelle jährlich erreichten. Zur Lobbyarbeit gehöre auch, sich ständig bei der Stadt Köln um neue Finanzierung zu bemühen. Zuletzt im vergangenen Jahr: Da wollte die Stadt dem Jugendzentrum die Mittel kürzen. Erst nach wochenlangen Protesten wurden sie freigegeben und sogar erhöht. Dabei ist der Bedarf an Beratungsangeboten in den vergangenen Jahren nicht nur gestiegen - die Hilfesuchenden werden auch immer jünger.
Durch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz, würden sich junge Menschen immer früher outen – und damit früher Diskriminierung oder Ablehnung erfahren, sagt Piper. "Früher kamen die meisten nach der Schule oder mit Beginn des Studiums ins Anyway, inzwischen kommen manche schon mit elf oder zwölf Jahren." Hilfe suchen viele auch deshalb, weil Eltern das Outing oftmals als Phase abstempeln. Vor allem trans, inter und nicht-binäre Menschen erleben in diesen Momenten Enttäuschung. Weil das Anyway gerade für diese Lebensphase Unterstützung bietet, fahren viele junge Menschen extra aus anderen Städten an.
Robin Ostendorf gehört auch dazu. Seit dem ersten Besuch mit Freunden macht er sich immer häufiger allein aus Leverkusen nach Köln auf, mit Erfolg: "Seit ich hier herkomme, bin ich viel selbständiger geworden." Er glaubt: Der Schritt vom ungeouteten Leben Zuhause in die queere Szene, sei für viele Jugendliche und junge Erwachsene sehr schwierig.
Die "TIN"- Gruppe (trans, inter und nicht-binäre), wie sie im Anyway genannt wird, macht inzwischen ein Drittel der Stammgäste aus. Einfach war das nicht: "Wir haben Leute reingeholt, die genau damit Expertise hatten, vielleicht sogar selbst trans waren", sagt Piper. Dabei war das Anyway in seinen Ursprüngen ein rein schwul-lesbisches Jugendzentrum.
Die Zeiten ändern sich - und mit ihnen die Aufgaben
"Das Ziel war, einen Schutzraum für schwule und lesbische Jugendliche zu schaffen, einen Ort zum treffen, vernetzen, experimentieren und um sich zu verlieben", sagt Piper, der seit zwölf Jahren im Anyway arbeitet, sechs davon als Geschäftsführer. Von queer hätte damals niemand gesprochen. Es sei eine große Herausforderung gewesen, allein die beiden Interessengruppen schwul und lesbisch zusammenzubringen.
"Denn schwule Männer sind eben Männer, damit ist automatisch das Patriarchat und die vorherrschende Stellung, die es in der Gesellschaft hat, ein Thema." Aufgabe des Anyway ist es deshalb bis heute lesbischen Mädchen und Frauen einen Raum zu geben, indem sie vor sexistischer Diskriminierung geschützt sind. Möglich wird das durch geschlechtsspezifische Angebote, also Abende, an denen nur Jungs oder nur Mädchen kommen.
Heute denken die Mitarbeiter im Anyway deutlich "intersektionaler, diverser und globaler" als damals. Seit anderthalb Jahren öffnen sich deshalb jeden Montag die Türen einer Anyway-Anlaufstelle in Köln Mülheim. Es ist ein Schutzraum, der speziell für queere Jugendliche mit Migrationshintergrund eingerichtet wurde.