Zwei Männer und eine Frau sitzen an einem Küchentisch.

Überleben gegen alle Chancen: Wie ein Fremder zum Lebensretter wurde

Münster | Ehrenamt

Stand: 31.03.2024, 10:30 Uhr

Dass Jendrik Seibert heute am Leben ist, verdankt er Thomas Sechelmann. Als Dreijähriger erhält er eine Stammzellenspende von Sechelmann, mit der er seinen Blutkrebs besiegt. 24 Jahre später haben beide noch immer Kontakt - und eine ganz besondere Verbindung.

Von Ruben Honermeyer

Kurz nach der Jahrtausendwende schreibt Birgit Seibert einen Brief. An den Mann, der vor kurzem das Leben ihres dreijährigen Sohnes Jendrik gerettet hat. Damals weiß Seibert nicht einmal, wie der Lebensretter heißt. Heute, knapp 24 Jahre später, umarmen sich er und Jendrik Seibert im Flur der Wohnung von Birgit Seibert. Thomas Sechelmann ist längst kein Unbekannter mehr für die Familie. Wenig später sitzen sie nebeneinander auf dem kleinen unscheinbaren brauen Sofa in der Küche. Und Birgit Seibert liest aus eben jenem Brief vor.

Zeilen der Dankbarkeit: Birgit Seibert liest aus dem alten Brief vor

00:35 Min. Verfügbar bis 31.03.2026

Jendrik Seibert kennt Sechelmann, 50 Jahre alt, schon sein ganzes Leben. Ein Leben, das der 27-Jährige ihm verdankt. Mit zwei Jahren war Jendrik Seibert an einer akuten lymphatischen Leukämie erkrankt, auch Blutkrebs genannt. Er galt kurz als geheilt, hatte mit drei Jahren aber einen Rückfall. Wird die Krankheit nicht behandelt, führt sie innerhalb weniger Monate zum Tod. Rund 13.000 bis 14.000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an Leukämie.

Kein Abwägen nötig

"Ich hatte immer diese Grundangst, dass mir mein Sohn genommen wird", erinnert sich Birgit Seibert heute. Eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit gab es damals für Jendriks Überleben. "In guten Momenten habe ich gedacht, wir gehören zu den zehn Prozent." Durch die Krankheit gerät die heile Welt der Familie plötzlich aus den Fugen.

Birgit Seibert erinnert sich an ihre Reaktion auf die Diagnose

00:12 Min. Verfügbar bis 31.03.2026

Einige Jahre vor diesem Rückfall von Jendrik Seibert lässt sich Thomas Sechelmann aus Münster für eine Knochenmarkspende registrieren. Damals, in den 90er-Jahren, arbeitet er bei der Bundeswehr und die Angehörige eines Kameraden ist erkrankt. Die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich Spender zu werden, ist gering.

Jahre später, während Jendrik Seibert im Krankenhaus um sein Leben kämpft, erreicht ihn nach einigen Untersuchungen plötzlich eine Anfrage - für eine Stammzellenspende. Damals ist das ein neues Verfahren. Sechelmann willigt ein.

Thomas Sechelmann: "Habe nicht zweimal drüber nachgedacht"

00:36 Min. Verfügbar bis 31.03.2026

Zunächst muss er sich über 14 Tage Spritzen verabreichen, in der Uni-Klinik in Dresden wird ihm im Anschluss Blut abgenommen und daraus Stammzellen gewonnen. Zwei Tage dauert die Prozedur normalerweise. Nach acht Stunden ist alles vorbei. Sechelmann ist erstaunt und fragt nach. Er könne sich sicher denken, warum, wird ihm damals gesagt. Die Spende sei für ein Kind.

Jendrik Seibert darf leben

Beim Blutkrebs vermehren sich unreife weiße Blutzellen ungebremst im Knochenmark. Damit stören sie die Blutbildung. So können Organe beschädigt werden. Die Erkrankung kommt am häufigsten bei Kindern und Jugendlichen vor, wie auch bei Jendrik Seibert.

Infos zu Registrierung und Spende

2022 haben sich in Deutschland rund 96.000 Menschen bei der Deutschen Knochenmarkspenderdatei (DKMS) registrieren lassen. Registrieren bedeutet, einen Wangenabstrich mit einem Wattestäbchen zu machen. Diese Probe wird dann analysiert und in die Datei der DKMS aufgenommen. Sollte es zu einer Stammzellenspende kommen, wird noch einmal gefragt, ob man bereit dafür ist. In 90 Prozent der Fälle werden die Stammzellen dabei aus dem Blut entnommen. In zehn Prozent der Fälle kann auch eine Knochenmarkentnahme unter Vollnarkose notwendig sein. Wer sich selbst registrieren möchte, findet hier Informationen.

Nach jahrelangen Behandlungen, Chemotherapie und unzähligen Stunden im Krankenhaus, hat die Familie dank der Spende von Sechelmann plötzlich wieder Hoffnung. Am 20. April 2000 ist es so weit: Die Stammzellen werden transplantiert. Mit Erfolg: Der kleine Jendrik darf weiterleben. Mithilfe der gespendeten Stammzellen baut der Dreijährige ein neues Blutbild und Immunsystem auf.

Große Dankbarkeit

Dass die Stammzellen von Sechelmann stammen, wissen die Seiberts zunächst nicht. Bei Knochenmarkspenden gilt eine zweijährige Anonymitätsfrist. Kontaktaufnahme ist nur anonym per Brief oder Mail möglich. Patienten sollen sich ganz auf ihre Genesung konzentrieren können.

Einige Monate nach der Transplantation schreibt Birgit Seibert den anonymen Brief, aus dem sie am Küchentisch vorgelesen hat. "Ich habe diesen mir ungekannten Menschen damals so ins Herz geschlossen", erinnert sie sich. "Für mich war es das allergrößte, was ein Mensch für mich und meinen Sohn tun konnte."

Nach Ablauf der Anonymitätsfrist treffen die Familie und der Münsteraner das erste Mal persönlich aufeinander. Sechelmann erinnert sich genau an seine Aufregung. Im Wohnhaus angekommen, will ihn niemand mehr aus seiner Umarmung entlassen.

Wie war die erste Begegnung von Thomas Sechelmann mit Jendrik Seibert?

00:22 Min. Verfügbar bis 31.03.2026

Thomas Sechelmann wird zum engen Freund der Seiberts. Die Familie schickt dem 50-Jährigen jedes Jahr zum 20. April Rosen nach Münster. Jedes Jahr eine Rose mehr. Jendrik Seibert nennt Sechelmann seinen Blutsbruder: "Wir haben uns nie gestritten, es war immer schön". Die Familie besuchen sich regelmäßig, aber doch "viel zu selten", wie sich alle einig sind.

Zwei Männer lächeln sich an, sie sitzen einer Bank an einem Tisch.

Thomas Sechelmann und Jendrik Seibert verbindet eine besondere Geschichte

Bei Birgit Seibert kommen an diesem Tag viele Erinnerungen hoch: nicht nur beim Lesen ihres Dankesbriefs, auch beim Betrachten der alten Kindheitsfotos. Morgen wird ein besonderer Tag für ihren Sohn sein. "Weißt du, was morgen passieren wird?", fragt Sechelmann Birgit Seibert. "Du verlierst deinen Sohn ein Stückchen, aber auf die allerbeste Weise." Jendrik Seibert wird am Tag nach dem Besuch heiraten.

Über dieses Thema berichten wir auch am 12.04.2024 im WDR Fernsehen: Lokalzeit aus Münster, 19:30 Uhr.