Dass sich Erkan Nuran mit seinem Freund Michael Becker im Winter im Warmen unterhalten kann, ist selten. Gerade sitzen sie an einer weihnachtlich geschmückten Tafel und sprechen miteinander. Vor ihnen liegen Kekse und Lebkuchen, daneben steht Kaffee. Es geht um die Kinder. "Und den dreien geht's gut, ja?", fragt Nuran. Becker, der eigentlich einen anderen Nachnamen hat, nickt. Er ist froh, dass er ihnen noch Weihnachtsgeschenke besorgen konnte. "Sind ja auch goldige Kinder", sagt Nuran und lächelt. In seinem Alltag ist selten Platz für so ein entspanntes Miteinander. Und selten Platz für ihn. Denn Erkan Nuran lebt auf der Straße.
Steinfurt: Warum ein Netzwerk genau hier der Wohnungslosigkeit den Kampf ansagt
Nuran ist einer von 3.825 Wohnungslosen im Kreis Steinfurt. NRW-weit ist die Zahl nur in Köln (10.315) und Düsseldorf (4.525) höher. Der dritthöchste Wert im NRW-Vergleich, eine Herausforderung für den ländlich geprägten Kreis, dessen größte Stadt Rheine etwa 80.000 Einwohner hat.
Im Netzwerk "Wohin? zu Hause in Rheine" haben sich verschiedene soziale Einrichtungen zusammengeschlossen. Darunter die Suppenküche, Wohngruppen oder die Caritas. Sie wollen Betroffenen helfen und veranstalten regelmäßig Treffen. Wie zum Beispiel die Weihnachtsfeier, bei der Erkan Nuran gerade noch einen Schluck aus seiner Kaffeetasse trinkt.
Seit zehn Jahren ist der 48-Jährige Teil der Wohnungslosen-Statistik. Einen festen Wohnsitz hat er nicht. Wohnungslose leben dabei nicht zwangsläufig durchgehend auf der Straße, viele kommen bei Freunden oder Familie unter. So auch Nuran. "Die Nacht war sehr kalt, die habe ich bei meiner Freundin verbracht." Dauerhaft kann er aber nicht bei ihr wohnen. "Da habe ich mich heute Morgen fertig gemacht, dass ich mich präsentieren kann", sagt er.
Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit
Wohnungslose haben keinen eigenen Wohnsitz, kommen aber in Notunterkünften, bei Freunden oder Sammelunterkünften, wie Flüchtlingsheimen unter. Wohnungslose machen mit 98,7 Prozent den größten Teil der Statistik aus. Lediglich 1,3 Prozent der Wohnungslosen sind von der gravierendsten Form von Wohnungslosigkeit betroffen und leben als Obdachlose dauerhaft auf der Straße. Obdachlosigkeit gilt als Unterform der Wohnungslosigkeit.
Für Wohnungslosigkeit gibt es vielfältige Gründe. Oft ist es ein Zusammenspiel unterschiedlicher persönlicher und struktureller Faktoren, weswegen es schwierig ist, eindeutige Zahlen zu ermitteln. Das zeigt auch Nurans Fall.
Die Folge einer Abwärtsspirale
Der gelernte Industriemechaniker hatte eigentlich einen Beruf und geregelten Alltag. Nach einer Beziehung ging es für ihn in eine Abwärtsspirale: "Der Hauptgrund ist, dass ich mich während einer Beziehung hoch verschuldet habe." Wann immer er eine Wohnung anfragt, mache ihm die Schufa-Auskunft einen Strich durch die Rechnung. "Ohne Wohnung ist es schwer, einen Job zu kriegen. So dreht man sich im Kreis", schließt Nuran.
Aber das soll heute nicht im Vordergrund stehen. Beim Festtagsbuffet können er und seine Freunde abschalten. "Es ist schön, mal wieder unter Menschen zu kommen", er sei oft mit sich und seinen Gedanken allein. "Die Situation ist auch mit einer gewissen Scham verbunden und man zieht sich zurück."
- Wie ehrenamtliche über die Obdachlosen in Köln wachen
Einen Großteil der Anwesenden kennt er seit Jahren. So schön die Zusammenkünfte sind, so unerbittlich zeigen sie auch den Tribut, den das Leben auf der Straße fordert: "Da schaut man auch manchmal, wer noch da ist und wer nicht." Letztere werden auf der Veranstaltung auch mit einer Schweigeminute bedacht.
Hoffnung ist das Wichtigste
Nach dem Buffet gibt es noch Geschenke. Dank Spenden werden Tüten mit kleinen Geschenken für den alltäglichen Bedarf sowie Lebensmitteln verteilt. Jede Tüte hat einen Wert von etwa 50 Euro.
Aber das eigentliche Geschenk sei das Zusammenkommen und die Hilfe über das Jahr verteilt: "Es ist schon lebenswichtig, sonst geht man verloren auf der Straße und verliert die Hoffnung." Zwar gebe es einen gewissen Zusammenhalt auf der Straße, aber ohne Hilfe von außen gehe es nicht. Abende wie der des Weihnachtsessens sind für Nuran dabei auch psychologisch wichtig. Sie helfen ihm, nicht die Hoffnung zu verlieren.
Über dieses Thema haben wir auch am 20.12.2024 auch im Fernsehen berichtet: Lokalzeit Münsterland, 19.30 Uhr.