Stresstest Notfalldarstellung: Chaos stiften für das Gemeinwohl
Stand: 14.11.2024, 07:44 Uhr
Anna Triebskorn schauspielert seit sechs Jahren ehrenamtlich für das DRK und Jugendrotkreuz. Ihre Aufgabe: Notfälle und Katastrophen möglich realistisch darstellen. Wie sie mit einer komplizierten Verletzung und viel Schlagfertigkeit die Helfer bei einer Großübung des THW in Mönchengladbach ins Schwitzen bringt.
Notfalldarstellerin für das THW: Wo ist Schatzi?
Anna Triebskorn liegt auf dem Gang einer verwüsteten Schule im ersten Stock. Um sie herum lassen sich im Halbdunkel Schlieren auf dem Boden erahnen. Der Strom ist ausgefallen. Mehrere Ersthelfer des Technischen Hilfswerks sind vor Ort und suchen nach Menschen. Als der Strahl einer ihrer Helmlampen über den Boden gleitet, wird die blutrote Farbe der Schlieren erkennbar. Triebskorn schreit verzweifelt nach ihrem Mann. "Wie heißt denn ihr Mann?", fragt ein junger THW-Helfer, der neben der 24-Jährigen kniet. Sie weiß es nicht, schreit nur immer wieder verzweifelt nach "Schatzi".
Triebskorn, die in Bochum angewandte Gesundheitswissenschaft im Master studiert, ist eine von 30 ehrenamtlichen Laienschauspielern, die bereits am Vorabend zu einer Großübung des THW nach Mönchengladbach angereist sind. Obwohl die Übung mit insgesamt 700 Freiwilligen von langer Hand geplant ist, sind spontane Änderungen im Ablauf der Notfallfalldarstellung willkommen.
Ein bisschen Sadismus hilft
Es ist das vielleicht böswilligste Ehrenamt, das es gibt. Denn gute Notfalldarstellung hilft der Allgemeinheit besonders dann, wenn sie Einsatzkräfte an ihre Belastungsgrenzen bringt. "Es macht definitiv auch Spaß, die Jungs und Mädels vom THW heute ein bisschen zu quälen. Am Ende ist dieser Stresstest wichtig für sie", sagt Triebskorn. Im Kern geht es den Darstellern darum, außergewöhnliche Situationen für die Einsatzkräfte herbeizuführen. Die Übung mit Menschen ist realistischer als mit Puppen, die keine Widerworte geben können. "Im Ernstfall reagieren Personen an einer Unfallstelle selten rational, es herrscht eher Verwirrung", sagt Triebskorn.
Verwirrung entsteht dabei auch auf Darstellerseite. Und das sogar schon vor Übungsbeginn. Triebskorns Kollegin spielt eine Kunstlehrerin, die ihre Gemälde mehr liebt als ihre Schüler. Sie hat vergessen, ob sie einen Praktikanten dabei hat. Zwei weitere Kolleginnen sind sich uneins, in welchem Teil des weitläufigen Geländes sie auf eine vermeintliche Bergung warten sollen. Triebskorn wiederum erfährt kurzfristig, dass sie nun doch nicht schwanger ist.
Zugführer Stefano Mercurio ist der erste, der an diesem Tag mit seinen Trupps aus Köln, Aachen, Leverkusen und Hilden für die Übung eingeteilt ist. Von der Einsatzleitung hat der 42-Jährige nur erfahren, dass ein Flugkörper abgestürzt ist und Trümmerteile eine Schule getroffen haben. Als die Einheiten seines Bergungszuges losgeschickt werden, um sich ein erstes Bild der Lage zu machen, treffen sie auf die aufgebrachte Notfalldarstellerin. Triebskorn schlägt mit der flachen Hand von innen gegen das Glas des blockierten Eingangs.
THW Zugführer Stefano Mercurio bei der Besprechung mit dem ganzen Team
Während ein Teil der Helfer eilig Werkzeug holt, um sich Zugang zum Gebäude zu verschaffen, versucht ein anderer Kontakt mit Triebskorn aufzunehmen. Sie schreit und läuft apathisch treppauf und -abwärts. Als der Bergungszug die Schule schließlich betritt, ist Triebskorn verschwunden. Nach wenigen Minuten treffen sie im Treppenhaus stattdessen auf die Kunstlehrerin. Zur Überraschung der Helfer zeigt sie sich kooperativ und lässt sich von einer Helferin zum Sammelpunkt auf dem Schulhof begleiten. Dabei redet sie ohne Unterlass und wechselt sprunghaft das Thema.
Widerworte gehören zum Job
Zugführer Mercurio wird in der Regel zur technischen Räumung oder Bergung gerufen, wenn die Gefahr bereits abgewandt wurde. "Aber wenn das Ahrtal überflutet, sind alle im Einsatz. Dann zählt jede Sekunde." Der Umgang mit Menschen an Unfallorten und das schnelle Kommunizieren im Team üben sie an Tagen wie heute. Während sich die Kunstlehrerin alle Mühe gibt, ihre Retter mit einer Informationsflut auf eine falsche Fährte zu leiten, geht die Personensuche weiter.
Die aufgefundene Kunstlehrerin wird von THW-Helfern nach draußen begleitet
Ein Helfer hat Triebskorn im Obergeschoss entdeckt und bittet die aufgebrachte Frau, mitzukommen. Es ist der Beginn eines kritischen Katz-und-Maus-Spiels, denn die Gefundene könnte sich in ihrer Aufregung verletzen. Triebskorn hastet von Klassenraum zu Klassenraum, steigt eilig über umgekippte Möbel. In der Ecke eines verwüsteten Chemielabors versperrt der Helfer ihr behutsam den Weg. Er weiß, dass Chemikalien ausgetreten sein könnten und will sie schnellstmöglich evakuieren. Doch die Notfalldarstellerin weigert sich vehement, ohne ihren vermissten Mann das Gebäude zu verlassen und entwischt. Auf dem Gang vorm Treppenhaus rutscht sie plötzlich aus und bleibt weinend liegen. "Was ist das denn jetzt? Ich kann meine Beine nicht spüren, aber ich muss doch meinen Schatzi finden."
Notfalldarstellerin Anna Triebskorn wird abtransportiert
00:27 Min.. Verfügbar bis 14.11.2026.
Die Wendung mit der "Querschnittssituation" steht in ihrem Einsatzskript. Der Helfer informiert seinen Zug über Funk und fordert eine Trage mit Nackenstütze an. Während sie warten, will er die weinende Frau beruhigen. "Es wird alles gut", redet er ihr zu. "Wie soll denn alles gut werden? Mein Mann ist verschwunden, vielleicht tot und ich kann meine Beine nicht spüren!" Triebskorn ist trotz ihrer 24 Jahre bereits eine geübte Notfalldarstellerin. Sechs Jahre Erfahrung haben sie gelehrt, den Einsatzkräften keine Platitude durchgehen zu lassen. "In der Ausbildung lernen sie, Betroffene mit ihrem Schmerz ernst zu nehmen." Dazu gehört es, ihnen die Wahrheit zu sagen, wenngleich je nach Situation schonend oder zum angemessenen Zeitpunkt.
Ohne Improvisation geht es nicht
Nach und nach kann der THW-Zug alle betroffenen Personen bergen. Triebskorn wird vorsichtig neben die anderen Notfalldarsteller am Sammelpunkt gelegt. Die Wunden an den Gliedmaßen hat sie sich wie die anderen Darsteller vor den Übungen selbst geschminkt. Dabei helfen sie einander.
"Wer hat noch Hämatome?", fragte eine Kollegin zum Beispiel vor der Übung in die Runde. Eine andere holte die "Knochenkiste" aus dem Kofferraum, in dem sich unterschiedliche Requisiten stapeln. Eine Kiste mit Medikamenten, ein verletzter Schwangerschaftsbauch, ein Alu-Hut und eine Transportbox mit präparierten Vogelspinnen lassen nur vermuten, welche Notfallszenarien an anderen Stationen des Übungsgeländes geplant sind.
Die meisten Utensilien organisieren die Notfalldarsteller privat. Ein junger Mann bekommt einen offenen Bruch am Oberschenkel angebracht.
Anna Triebskorn erklärt, wie entschieden wird, welche Verletzungen geschminkt werden?
00:47 Min.. Verfügbar bis 14.11.2026.
Der Knochen dafür ist aus handelsüblicher Modelliermasse gemacht. Damit die Verletzungen möglichst authentisch aussehen, bekommen sie in regelmäßigen Lehrgängen Bilder echter Verletzungen gezeigt.
Ein ungewöhnliches Lob
Nach 90 Minuten ist die erste Übung des Tages abgeschlossen. THW-Zugführer Mercurio nimmt einige Anregungen mit, welche Bergungstechniken noch optimiert werden können.
Stefano Mercurio erklärt, was die Übung den Helfern gebracht hat
00:32 Min.. Verfügbar bis 14.11.2026.
Insgesamt ist er aber sehr zufrieden mit der Performance seiner teils noch wenig erfahrenen Einsatzkräften. "Sie haben weitestgehend souverän reagiert, auch wenn die authentische Darbietung von Anna und ihren Kollegen es uns alles andere als leicht gemacht haben".
Dabei hat Triebskorn, außer den Schauspielstunden, die zum Ehrenamt dazugehören, keine Berührungspunkte mit dem Theater. Die 24-Jährige begeistern vor allem die Gemeinschaft und der Wissensaustausch. "Ich lerne in der Notfalldarstellung unheimlich viel über Medizin und auch technische Details über Rettung und Bergung." Darum will sie sich auch in Zukunft beim DRK engagieren. Bevor der nächste THW-Zug anrückt, muss sie ihr Hämatom nachschminken. Es stehen noch mindestens sechs Durchläufe an, ehe alle Freiwilligen in der Nacht unterm Sternenhimmel am Lagerfeuer beisammensitzen.