Zwei Frauen, die vor einem aufgeschlagenen Buch sitzen.

Wie ein Düsseldorfer Mentoring-Programm junge Talente fördert

Düsseldorf | Füreinander

Stand: 04.10.2024, 07:49 Uhr

Das Düsseldorfer Programm "MentForMigra" will Kinder mit Migrationsgeschichte dabei unterstützen, ihr Potenzial zu entfalten. Das bringt nicht nur schulische Erfolge, sondern auch Freundschaften.

Von Mirjam Ratmann

Faima Begum hat es geschafft. Im Sommer hat die 18-Jährige ihr Abiturzeugnis bekommen. Abschlussnote: 1,7. Einige Tage nach ihrem Abiball plant sie bereits die nächsten Monate. Erst ein FSJ beim Rettungsdienst der Düsseldorfer Malteser, dann Medizinstudium.

Normale Zukunftspläne einer ambitionierten jungen Frau - und das, obwohl Begum noch in der dritten Klasse kaum Deutsch sprach. Dass sie es so weit gebracht hat, verdankt sie auch dem Mentoring-Programm "MentForMigra" und ihrer Mentorin Heike von Westphal.

Mehr als Hausaufgabenbetreuung

2015 gründet die damalige Grundschullehrerin Dorothee Kettner "MentForMigra". Seitdem unterstützen die Ehrenamtlichen Kinder mit Flucht- oder Migrationsgeschichte ab der 4. Klasse auf dem Weg zum Gymnasium und während der Gymnasialzeit. Inzwischen unterstützt das Mentoring-Programm 162 Kinder und Jugendliche aus 42 Ländern in Düsseldorf, dem Kreis Viersen und dem Kreis Neuss. Warum die Unterstützung beim Weg auf das Gymnasium so wichtig ist, zeigt eine Statistik des Statistischen Landesamtes NRW.

Während an Hauptschulen der Anteil der Schüler mit Zuwanderungsgeschichte 2022 bei 65,1 Prozent lag, sind es auf dem Gymnasium nur 35 Prozent. Verglichen mit dem Wert für Grundschulen sind Schüler mit Zuwanderungsgeschichte am Gymnasium also unterrepräsentiert.

Heike von Westphal, die bei der Gründung des Programms noch als freischaffende Modedesignerin arbeitet, ist eine der Ersten, die Kettner 2015 als Mentorin für "MentForMigra" gewinnt.

Beim ersten Aufeinandertreffen vor acht Jahren sind Mentorin von Westpfahl und ihr Mentee Begum aufgeregt und nervös. Aber sie verstehen sich auf Anhieb, erzählen sie rückblickend. Eine Stunde pro Woche besprechen sie deutsche Texte, üben, die vier Fälle zu unterscheiden, lernen Vokabeln, gehen in die Bücherei, ins Theater und ins Kino.

Heike von Westphal erzählt von ihrem ersten Treffen mit Faima Begum

00:30 Min. Verfügbar bis 04.10.2026

Von Westphal begleitet Begum auch zum Anmeldegespräch ins Humboldt-Gymnasium. Die 56-Jährige sieht ihre Ambitionen sofort: "Faima hat sich viel selbst erarbeitet, war sehr diszipliniert und fleißig. Irgendwann wurde sie regelrecht zu einer Leseratte."

Trotz Sprachbarrieren aufs Gymnasium

Faima Begum kommt 2014 gemeinsam mit ihren Eltern und zwei jüngeren Schwestern aus Bangladesch nach Deutschland. Damals ist sie acht Jahre alt. Ihre Eltern trennen sich. Trotzdem will die Familie in Deutschland bleiben. Sie bekommen eine Aufenthaltsgenehmigung, die Kinder werden also in Deutschland zur Schule gehen. Doch sie sprechen nur Bengali und Italienisch. 

Begum und ihre Schwestern gehören damit zu den laut Statistischem Landesamt rund 40 Prozent der 2,4 Millionen Schülerinnen und Schüler, die eine Zuwanderungsgeschichte haben. Die Mehrheit von ihnen hat einen deutschen Pass. Dabei gibt es regional große Unterschiede. Während der Anteil von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte an den Schulen in Coesfeld bei 18,5 Prozent liegt, sind es in Gelsenkirchen 55,4 Prozent. Auch Düsseldorf liegt mit 49,3 über dem Landesdurchschnitt.

Als Begum in die dritte Klasse eingeschult wird, spricht sie kein Wort Deutsch. Das ändert sich schnell. Sie liest Kinderbücher und Märchen der Gebrüder Grimm, schaut Fernsehen, spricht mit ihren Mitschülerinnen. Nach der Schule lernt sie Vokabeln. Trotz Sprachdefiziten erkennt Begums Klassenlehrerin Potenzial in ihr und wendet sich an "MentForMigra"-Gründerin Dorothee Kettner. 2016 wechselt Begum auf das Humboldt-Gymnasium in Düsseldorf. Ihr gelingt damit ein statistisch eher seltener Schritt. Denn laut Mikrozensus 2019 besuchen nur 19,5 Prozent aller eingewanderten Kinder ein Gymnasium.

Dorothee Kettner ist es sehr wichtig, dass alle die nötige Förderung bekommen

00:33 Min. Verfügbar bis 04.10.2026


Während Begum nun dickere Bücher von Erich Kästner, Otfried Preußler und Astrid Lindgren liest, lernt von Westphal bengalisches Essen und Feste kennen. Mentee und Mentorin werden in den kommenden Jahren Teil der jeweils anderen Familie. "Meine gesamte Familie liebt Heike, sie ist eine Freundin", sagt Begum. Von Westphal, die zwei Söhne hat, bezeichnet Begum als ihr drittes Kind.

Dorothee Kettner ist stolz, dass mit Begum eine ihrer ersten Mentees das Abitur geschafft hat, noch dazu mit einem solchen Schnitt. "Ich bewundere das sehr", sagt sie. Inzwischen sind Begums jüngere Schwestern ebenfalls Mentees bei "MentForMigra".

Weg zum Abitur nicht ohne Hindernisse

Auf dem Gymnasium bekommt Begum gute Noten, droht aber in Mathe auf eine vier abzurutschen. "Bildung war das Einzige, das ich hatte, in dem ich mich beweisen konnte", sagt Begum. Von Westphal versucht, ihr den Druck zu nehmen und organisiert zusätzliche Nachhilfe.

Faima Begum über ihre Erfahrungen mit "MentforMigra"

00:24 Min. Verfügbar bis 04.10.2026

Kurz vor dem Abitur wird Begum das Visum für die Abschlussreise nach Schottland verweigert. Von Westphal und Kettner schaffen es, noch eins zu besorgen. "Es hat mir viel Sicherheit gegeben, dass ich immer jemanden kontaktieren konnte und mit keiner Situation allein bin", sagt Begum.

Die Geburtsstunde von "MentForMigra"

Kettner ist Grundschullehrerin, als ihr 2010 in einer vierten Klasse Moubarak auffällt. In NRW müssen Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer für Kinder in der 4. Klasse eine Empfehlung für eine Schulform abgeben: Gymnasium, Realschule oder Hauptschule.

Zu sehen ist eine Frau, die vor einer Bücherwand sitzt.

Dorothee Kettner rief das Mentoring-Programm "MentForMigra" ins Leben

Obwohl Moubarak lernwillig und wissbegierig ist, hat seine damalige Klassenlehrerin Bedenken. Denn Moubaraks Eltern kommen aus dem Togo, sprechen zu Hause ausschließlich Kotokoli. Kettner setzt sich für Moubarak ein und bietet an, ihn zu unterstützen. Es ist die Geburtsstunde von "MentForMigra". 2019 machte Moubarak sein Abitur, studiert inzwischen Logistik-Management in Dortmund. Seine Eltern haben feste Jobs gefunden.

"Wir brauchen diese Kinder und ihre Fähigkeiten in unserer Gesellschaft. Dieses Potenzial dürfen wir nicht links liegen lassen", sagt Kettner, die für das Programm ihren Status als Beamtin aufgegeben hat. Anfang des Jahres wurde die 53-Jährige vom Bundespräsidenten für ihren Einsatz für das Gemeinwohl gewürdigt.

Von "MentForMigra" profitieren nicht nur Kinder

Einmal in der Woche treffen sich Mentee mit Mentorin oder Mentor in der Düsseldorfer Stadtbibliothek. Ein Mentoring dauere so lange "wie die Kinder uns brauchen", sagt Kettner, jedoch mindestens vier Jahre. Notwendige Voraussetzung sei, dass die Eltern mitziehen und sich um Sprachkurse und Integration bemühen. Kettner und ihre Mentoren unterstützen bei Bewerbungen oder Behördendokumenten.

Was Heike von Westphal durch das Programm "MentForMigra" gelernt hat

00:30 Min. Verfügbar bis 04.10.2026


Für Faima Begum und Heike von Westphal ist das Mentoring zwar beendet, Kontakt halten sie trotzdem. Lesen, einst ein Mittel, um Deutsch zu lernen, ist nun Begums Hobby. Ihr Lieblingsbuch "1000 strahlende Sonnen" von Khaled Hosseini hat sie von Westphal zum Geburtstag geschenkt. Der Roman handelt von zwei Frauen, die in Afghanistan aufwachsen. Mit der Geschichte fühlt sich die 18-Jährige verbunden: "In den beiden Frauen sehe ich meine Mutter und mich: Wir haben es geschafft, uns rauszukämpfen und uns ein besseres Leben erarbeitet."