Warum eine Düsseldorferin ihre Samstage in der Psychiatrie verbringt

Düsseldorf | Füreinander

Stand: 23.01.2025, 07:24 Uhr

Alisa Ryjkina geht ehrenamtlich dorthin, wo sich oft noch nicht mal Angehörige blicken lassen. Jeden Samstag verbringt sie mit psychisch kranken Menschen auf der geschützten Station des LVR-Klinikums in Düsseldorf. Wie sie ihnen dort wertvolle Normalität schenkt.

Von Daniela Partenzi

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Hinter den Türen der "Geschlossenen"

Alisa Ryjkina öffnet die Tür zur Station B1 des LVR-Klinikums in Düsseldorf mit einem Chip. "Hallöchen!", ruft die blonde Düsseldorferin munter in die Runde. Einige Männer und Frauen haben schon hinter der Glastür auf die 34-Jährige gewartet.

Die nächsten drei Stunden verbringt die Ehrenamtlerin mit ihnen. Sie hört zu, spielt Spiele mit den Patienten und geht mit ihnen spazieren. Das Wetter ist ihnen egal, Ryjkina auch. "Punkt 14 Uhr stehen sie schon mit der Regenjacke parat und haben Lust." Lust auf Sauerstoff tanken. Lust darauf, die Natur im angrenzenden Wald zu erleben. Und endlich mal Bewegung zu spüren, die im Alltag auf der Station oft zu kurz kommt.

Wie sich Alisa Ryjkina vor dem ersten Ausflug mit den Patienten fühlte 00:21 Min. Verfügbar bis 23.01.2027

Wichtig sei den Patienten auch der Kontakt zu Mitmenschen, die nichts von ihrer Diagnose wissen. "In solchen Momenten können sie sich einfach mal wie normale Menschen fühlen - normal natürlich in Anführungszeichen", sagt Ryjkina. "Was ist schon normal?" Jeden Samstag verbringt die Ehrenamtlerin in der LVR-Klinik in Düsseldorf Grafenberg. Das ist ein fester Termin in ihrem Kalender. Alle ihre Freunde und Verwandte wissen, dass sie da nicht zu erreichen ist. Denn dann widmet sie sich voll und ganz den Menschen auf der "Geschlossenen".

Patienten sind Gefahr für sich oder andere

In der Regel werden "geschlossene" Stationen allerdings heute "geschützte" Stationen genannt, erklärt Ryjkina. Laut LVR werden hier Patienten mit akuten psychischen Störungen behandelt, die eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen. Manche von ihnen kommen freiwillig in die Klinik, andere per Gerichtsbeschluss. Merkmale einer geschützten Station sind nach Angaben des Landesverbands: verschließbare Eingangstüren, besonders gut einsehbare Flure und Zimmer sowie mehr Personal.

Im Jahr 2022 wurden nach Angaben des Statistischen Landesamts Nordrhein-Westfalen etwa 240.000 Menschen aus NRW wegen psychischer und Verhaltensstörungen stationär im Krankenhaus behandelt. Mehr als ein Drittel aller Patientinnen und Patienten waren zwischen 40 und 60 Jahre alt. Genaue Zahlen, wie viele von ihnen in einer geschützten Station behandelt wurden, gibt es nicht.

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"Klar, explodiert auch mal einer"

Die geschlossene Station hat moderne Krankenhaus-Atmosphäre: helle, breite Gänge, viel Glas, grüne Akzente durch Wände und Möbel. Als Ryjkina zum ersten Mal in die Klinik kam, hatte sie erst noch ein paar Vorurteile. Angst?

"Nein, aber doch Respekt vor denen, die ich da treffen würde. Die tollen Menschen, die ich hier getroffen habe, nahmen mir aber schnell die Vorurteile. Jeder hier hat Schicksale hinter sich, viele der Patienten kommen aus der Obdachlosigkeit." Manche seien "Drehtür-Kandidaten". Patienten, die entlassen werden und immer wieder in die Klinik zurückkehren.

Schnell fällt auf, dass alle rauchen. "Das sind schon 90 Prozent", sagt sie. Wenn Ryjkina die Männer oder Frauen zum Supermarkt begleitet, stehen nur Zigaretten auf dem Einkaufszettel. Die Kippen würden auch zum Tauschhandel eingesetzt.

Alisa Ryjkina begleitet die Patienten regelmäßig zum Supermarkt | Bildquelle: WDR / Daniela Partenzi

"Das ist die Währung hier." Die Qualmerei sei das eine, "dazu kommt aber oftmals mangelnde Körperpflege. Also das war am Anfang schon schwierig."

"Ich könnte das nicht"

Viele ihrer Bekannten würden sich dieses Ehrenamt nicht zutrauen. "Ich könnte das nicht", ist ein Satz, den sie immer wieder hört, wenn sie anderen davon erzählt. Auch ihr Freund mache sich viele Gedanken, aber davon lasse sie sich nicht abbringen.

Gefunden hat Ryjkina ihr Ehrenamt per Zufall im Internet. "Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt." Was sie aber sofort wusste war, dass sie das machen wollte.

Warum sich Alisa Ryjkina für das Ehrenamt entschieden hat 00:37 Min. Verfügbar bis 23.01.2027

Die 34-Jährige läuft gerade durch das Treppenhaus, als ein Alarm durch das Haus schrillt. Sekunden später rennen drei große, kräftige Pfleger an ihr vorbei. Ryjkina bleibt ganz ruhig. "Klar, explodiert auch mal einer", sagt sie, "da fehlt es eben an Impulskontrolle." Dass sich die Gewalt gegen sie richtet, hat Ryjkina noch nicht erlebt. Gegenstände bekommen dagegen schon mal etwas ab. Für den Notfall ist die Düsseldorferin gewappnet.

Ryjkina hat einen Notfall-Alarm in der Tasche. Den kann sie auch aktivieren, wenn auf einem der Spaziergänge jemand ausbüxt. Benutzt hat sie den Pieper in dem einen Jahr, in dem sie das Ehrenamt macht, noch nie.

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Yoga, Kochen oder Musik für psychisch Kranke

"Empathie ist kein Mitleid", sagt Ilse Neuenhofen. Sie ist die Ehrenamtskoordinatorin der LVR-Klinik in Düsseldorf. Gut 30 Männer und Frauen zwischen Anfang 20 und 70 Jahren kommen so wie Ryjkina einmal die Woche. Sie bieten Yoga oder Kochkurse an, machen Musik mit den Patienten. Jörg Schiffer lädt zur Tischtennis-Runde ein.

Jörg Schiffer spielt gerne eine Partie Tischtennis mit den Patienten | Bildquelle: WDR / Daniela Partenzi

Der Bauzeichner nimmt sich die Zeit für seine Gruppe gerne. Das Ehrenamt erinnere ihn immer daran, wie gut es ihm gehe. "Ich lebe privilegiert. Mein Glas ist voll, jetzt kann ich für andere da sein, etwas von meiner Stärke abgeben", sagt der 50-Jährige. Dann muss er schnell wieder an die Tischtennisplatte. Drei Männer und eine junge Frau warten auf ihn. Rundlauf.

Normalität im Klinikalltag

Es gibt auch Engagierte, die sich um die Jugendlichen im Haus kümmern, so wie Sascha Mahmudovski. Der vierfache Vater ist ausgebildeter Suchtberater. Ehrenamtlich kümmert er sich seit vier Jahren in der Klinik in Düsseldorf um die minderjährigen Patienten. Er freut sich über jedes Lächeln, das er den Teenagern entlocken kann. Worüber er mit ihnen redet? "Es geht immer um Alltägliches, über Pillen reden wir nie."

"Das sind alles Leute mit einem großen Herz für Menschen in schwierigsten Lebenssituationen", sagt Koordinatorin Neuenhofen. Jemand mit Helfersyndrom sei falsch in diesem Ehrenamt. Sie brauche Helfende, die Abstand bewahren können und sich zu Hause nicht von den Eindrücken erschlagen lassen.

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Einblicke in die Tiefen der Psyche

Ryjkina geht ihr Ehrenamt konstruktiv an. "Ich nehme die positiven Aspekte mit und denke häufig an die Patienten in meinem Alltag. Wenn ich in meinem Alltag schöne Sachen sehe, bringe ich sie in die Klinik mit." Das kann eine Zeitschrift sein, ein ausrangierter Pulli oder Fotos für die Frau, die so von Griechenland schwärmt. Ehrenamt ist für sie Geben und Nehmen.

Neben ihrem Job im Marketing und dem Ehrenamt lässt sich Ryjkina zur Psychotherapeutin ausbilden. Ob sie den Beruf wechseln möchte? "Wer weiß, was daraus wird …", sagt sie. Dann schlendert sie über das weitläufige Klinikgelände, die dicke Daunenweste fest um sich geschlungen. Vor dem Eingang zur Cafeteria steht ein Patient im Regen und raucht. Als er Ryjkina sieht, stimmt er ein Lied an, leise, aber bühnenreif. "Sie können so toll singen!", sagt sie. Er antwortet: "Singen ist das Lächeln der Seele." Die 34-Jährige strahlt ihn an. Da ist er wieder: Einer dieser Momente, für die sich ihr Ehrenamt lohnt.