Wie ein Bochumer Fotograf Einsamkeit sichtbar machen will

Bochum | Ehrenamt

Stand: 27.08.2024, 07:24 Uhr

Tim Kramer ist Fotograf, arbeitet dabei für seinen Herzensverein, den VfL Bochum. In einem Moment, in dem eigentlich alles perfekt zu sein scheint, fühlt er sich so verloren wie nie zuvor. Seitdem engagiert sich der 37-Jährige ehrenamtlich mit seinem Projekt "eigen". Dafür hat er sich einiges überlegt, damit Einsamkeit kein Tabu-Thema mehr ist.

Von Ann-Kristin Pott

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Einsam unter Feiernden

Fußballspieler rennen auf das Spielfeld, jubeln, fallen sich in die Arme, das Trainerteam bekommt eine Bierdusche. Der VfL Bochum gewinnt am letzten Spieltag 3:1 gegen den SV Sandhausen und sichert sich nach elf Jahren in der zweiten Bundesliga den Aufstieg. Das war 2021. Wegen Corona dürfen keine Zuschauer in die Stadien. Tim Kramer erlebt diesen einzigartigen Moment als freiberuflicher Fotograf des Vereins am Spielfeldrand. Er selbst ist seit Jahrzehnten VfL-Fan. Nach dem Sieg will die Mannschaft im Hotel weiterfeiern. Auch hier dürfte Kramer dabei sein und fotografieren. Aber er entscheidet sich dagegen. Tim Kramer ist von Menschen umgeben, die kaum glücklicher sein könnten. Er selbst fühlt sich in diesem Moment komplett verloren. Zu Hause bricht er in Tränen aus.

Wie sich Tim Kramer nach dem Aufstiegsspiel gefühlt hat 00:25 Min. Verfügbar bis 28.08.2026

Im Jahr danach folgen schwere Schicksalsschläge: eine Trennung, Kramer hat einen schweren Verkehrsunfall, sorgt sich um seine Arbeit, hat Existenzängste. Er wünscht sich, dass ihm jemand hilft. Dann kann er sein Gefühl benennen: Einsamkeit. Damit ist Kramer nicht allein. Einsamkeit ist auch nicht nur ein Phänomen unter älteren Menschen. Laut Einsamkeitsstudie des Landes fühlen sich zwischen 16 und 18,5 Prozent aller jungen Erwachsenen in NRW stark einsam.

Während und nach der Corona-Pandemie sei Einsamkeit ein zunehmendes Problem bei jungen Menschen geworden. Kramer will etwas dagegen tun. Gleichzeitig bekommt er mit, "dass viele Menschen großen Respekt vor klinischen und städtischen Angeboten haben." Er will etwas anbieten, wo jeder hinkommen kann und gründet das Projekt "eigen. - von Einsam- und Gemeinsamkeiten".

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Das Projekt

Heute kann Kramer über die Erlebnisse im Fußballstadion 2021 offen sprechen. Der 37-Jährige geht gerade mit seinem Hund Bruno durch seinen Heimatstadtteil Bochum-Hamme. Der Hund schnüffelt noch an einer leerstehenden, alten Trinkhalle. In Hamme leben viele unterschiedliche Kulturen zusammen, es ist ein buntes Viertel. Hier fotografiert Kramer mindestens genauso gern wie im Stadion: "Meine Fotos haben alle so einen rauen Ruhrgebiets-Charme. Das ist es, was die Region ausmacht. Ich finde es hier so herrlich unperfekt." Seine Kamera hat er immer dabei. Besonders gern fotografiert er Menschen oder spontane Situationen.

Immer mit dabei: Tim Kramers Kamera | Bildquelle: WDR

Seine Fotografie ist auch Teil des "eigen"-Projekts. Aber nicht nur. Es geht ihm, Freundin Sonja Israel und einer weiteren ehrenamtlichen Helferin darum, sich für Menschen einzusetzen, die einsam sind. Sie möchten einen Umgang damit finden, zeigen, wie es anderen damit geht. Sie veranstalten erst Selbsthilfetreffen, inzwischen zweiwöchentlich Spaziergänge. Noch werden die Angebote nicht so gut angenommen, wie sie erhofft haben. Einsamkeit sei immer noch ein Tabu. Viele würden nicht darüber sprechen wollen oder sich vielleicht sogar schämen. Deshalb versucht Tim Kramer das Thema auch mit seiner Fotografie sichtbar zu machen.

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Die Kamera als Instrument

Ein paar Wochen später steht Kramer am Parkplatz des Kemnader Sees in Bochum. Während er seine Kamera aus dem Auto holt, kommt Marco Müller mit dem Rennrad angefahren. Der 33-Jährige hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Kramer begrüßt ihn herzlich. Die beiden kennen sich, haben bereits ein erstes Gespräch für das "eigen"-Projekt geführt. Die Ruhr, die in den Kemnader See fließt, ist Müllers Lieblingsort. Jetzt sollen hier erste Fotos entstehen. "Die Kamera ist ein wunderbares Instrument", sagt Kramer. Sie erlaube ihm, in Lebenswelten einzutauchen, die ihm sonst komplett verschlossen bleiben würden.

Müller soll Teil der Fotostrecke werden, an der Kramer arbeitet. Dabei porträtiert er Menschen aus Bochum, die ihre Geschichte erzählen und über ihre Erfahrungen mit Einsamkeit sprechen. Kramers Freundin Sonja Israel schreibt die Geschichte auf. Der Fotograf nutzt dafür sein Netzwerk und kontaktiert zum Beispiel den Bochumer Boxer Agit Kabayel, eine Politikerin - und Marco Müller. Er ist bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen.

Beide kämpfen sich zwischen Hecken und Büschen hindurch zum Fluss. Tim Kramer packt seine Kamera aus der Umhängetasche und schaut sich um. Müller stellt sich ans Ufer und blickt auf die Ruhr. Das Sonnenlicht glitzert auf dem Wasser, im Hintergrund fahren Kanuten.

Für den besten Schnappschuss geht Tim Kramer auch ins Wasser 00:17 Min. Verfügbar bis 28.08.2026

Kramer steht im Wasser. Die Kamera hängt um seinen Hals. Immer wieder spricht er mit Müller. Kramer ist es wichtig, dass sich die Fotografierten wohlfühlen, wenn er sie ablichtet: "Wir versuchen bei dem Projekt, die Menschen nicht als einsame Menschen darzustellen. Wir wollen sie so darstellen, wie wir sie wahrnehmen und wie sie sind." Die besten Fotos würden entstehen, wenn das Gegenüber gar nicht merkt, dass er ein Foto macht.

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Miteinander reden, voneinander lernen

In den Vorgesprächen und während der Fotos erfährt Kramer immer mehr über den Menschen Marco Müller. Müller ist mit Mitte zwanzig bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen. Es war ein jahrelanger Prozess. Mittlerweile hat er sich aber einen eigenen Freundeskreis aufgebaut und beendet gerade sein Masterstudium.

Am Ufer des Kemnader Sees lichtet Tim Kramer Marco Müller ab | Bildquelle: WDR / Ann-Kristin Pott

Sie unterhalten sich viel über das Thema Einsamkeit. Die hat Müller vor allem während seiner Zeit bei den Zeugen Jehovas beschäftigt: "Obwohl ich eine große Community um mich herum hatte, habe ich mich unglaublich einsam gefühlt." Sein Leben ist damals auf die Zeugen Jehovas beschränkt, zu denen er sich aber nicht mehr zugehörig fühlt. Im Hinterkopf von Kramer arbeitet es währenddessen bereits: "Ich überlege, wie ich sowohl diesen Kampf, den Marco gewonnen hat, als auch dieses ruhige, freundliche Wesen auf den Fotos einfangen kann. Das ist mein Wunsch bei der Fotostrecke: Die Menschen sollen Bild davon haben, wie Marco wirklich ist."

Sieben Porträts hat Kramer inzwischen über das Projekt "eigen" veröffentlicht. Weitere sollen folgen, auch das von Marco Müller. Aus allen Interviews und Gesprächen nimmt Tim Kramer auch etwas für sich selbst mit: "Man lernt am meisten über sich, wenn man im Austausch mit anderen ist. Ich habe nicht nur zum Thema Einsamkeit viel gelernt, sondern ganz, ganz viel über das Leben an sich."