Strahlende Ölquellen - Teil 1

Industrie verschweigt Gefahren durch radioaktive Rückstände

Stand: 07.12.2009, 12:24 Uhr

Die Förderung von Erdöl und -Gas belastet in vielen Staaten die Umwelt - auch in Deutschland. Seit einigen Jahren belegen Studien, dass eine Gefahr bislang völlig ignoriert wurde: Radioaktivität, die bei der Förderung freigesetzt wird. Die Industrie verharmlost, die Bundesregierung schweigt.

Von Jürgen Döschner

Diese radioaktive Strahlung ist bislang eher vor der Öffentlichkeit verborgen worden, nach Ansicht mancher Experten könnte sie aber alle anderen Umweltrisiken der Öl- und Gasindustrie in den Schatten stellen. Seit Jahrzehnten "fördern" nämlich Exxon, Shell und Co. mit jedem Barrel Öl und jedem Kubikmeter Gas zugleich erhebliche Mengen radioaktiver Substanzen. Allein in Deutschland fallen nach WDR-Recherchen mehrere tausend Tonnen pro Jahr an. Weltweit sind es einige Millionen Tonnen.

Die Beseitigung dieser so genannten NORM-Stoffe (NORM = Naturally Occurring Radioactive Material) erfolgte über Jahrzehnte hinweg völlig unkontrolliert - in vielen Ländern, einschließlich Deutschland, gibt es bis heute große Lücken bei der Erfassung und Entsorgung der NORM-Abfälle. Einmal in die Umwelt gelangt, stellen sie über Hunderte von Jahren eine Gefahr für Mensch und Umwelt dar. Bis heute verschweigt die Industrie das Problem vor der Öffentlichkeit, verharmlost die Risiken und macht keine klaren Angaben über den Verbleib großer Mengen von kontaminierten Abfällen aus der Vergangenheit und der Gegenwart.

Zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs

Bei der Öl- und Gasförderung gelangen mit dem sogenannten Prozesswasser unter anderem große Mengen Radium 226 aus dem Erdinnern an die Oberfläche, das sich zum Teil in den Förderrohren ablagert und zum Teil in Schlämmen und im Prozesswasser anreichert. Nicht ordnungsgemäß entsorgte NORM-Abfälle sind ein großes Gesundheitsrisiko, unter anderem weil Radium 226 zu Radon zerfällt. Radon ist ein radioaktives Gas und gilt neben dem Rauchen als zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs. Außerdem ist Radium 226 sehr langlebig. (Halbwertszeit: 1.600 Jahre) und extrem giftig: Schon kleinste Mengen können, vom Körper aufgenommen, Knochenkrebs auslösen.

Radium 226 in der Nahrungskette

Noch größere Probleme als in Deutschland stellen die NORM-Abfälle naturgemäß in den Haupt-Öl- und Gasförderländern dar. Die Recherchen des WDR ergaben zum Beispiel, dass

  • allein in den USA pro Jahr mehrere Hunderttausend Tonnen NORM-Stoffe anfallen, ein Teil davon wurde über Jahre hinweg auf Freiflächen verteilt (sogenanntes "Landspreading");
  • die britischen Öl- und Gasplattformen bis heute gigantische Mengen radioaktiver Abwässer, Schlämme und Inkrustierungen aus den Förderrohren direkt in die Nordsee "entsorgen"; von dort kann insbesondere das Radium 226 in die Nahrungskette gelangen.
  • in Kasachstan nicht der Fallout aus den rund 500 Atombombentests als Hauptursache für die Strahlenbelastung der Bevölkerung gilt, sondern die Abfälle aus der Öl- und Gasindustrie. Dort ist ein Gebiet von der Größe der Bundesrepublik verseucht;
  • kontaminierte Förderrohre in den USA unter anderem zum Bau von Spielgeräten an Kindergärten verschenkt wurden,
  • in vielen Ländern bis heute kontaminierter Schrott aus der Öl- und Gasindustrie wieder eingeschmolzen wird und als Recycling-Stahl auf den Markt gelangt.

Parallelen zur Asbest-Problematik

Experten in Kanada vergleichen wegen der großen Mengen, der Langlebigkeit der radioaktiven Stoffe und des vielfach ungeklärten Verbleibs die NORM-Stoffe aus der Öl- und Gasindustrie mit der Asbest-Problematik vor 20 Jahren. Die Bundesregierung schweigt bis heute zu dem Problem. Im jährlichen Strahlenschutzbericht tauchen die radioaktiven Rückstände aus der Öl- und Gasindustrie nicht auf. Zwar wurden die NORM-Stoffe 2001 in die Strahlenschutzverordnung aufgenommen. Doch ihre Erfassung und Entsorgung erfolgt nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz "weitgehend in Eigenverantwortung der betroffenen Betriebe".