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Buchcover: "Lawinengespür" von Paula Schweers

Lesefrüchte

"Lawinengespür" von Paula Schweers

Stand: 17.11.2023, 14:19 Uhr

Nora und ihr fünf Jahre älterer Bruder Leo sind Halbgeschwister. Sie wachsen in einem engen bayerischen Dorf auf. Die Mutter ist Alkoholikerin. Der Vater hat nur die Berge im Kopf.

Auf seinen Ausflügen ins Gebirge lehrt er Nora, ein Gespür für Lawinen zu bekommen. Doch bei Nora entfaltet sich noch mehr: Der hoch sensible Teenager erspürt bevorstehende Katastrophen. Leo dagegen ist ein jugendlicher Revoluzzer und Dealer. Als er das Piefige seines Dorfes und die kaputte Familie nicht mehr ertragen kann, schmeißt er einen Molotowcocktail ins Elternhaus und verschwindet.

Nora kann nicht begreifen, dass Leo sie verlassen hat. Auch zehn Jahre später sucht sie noch nach ihm. Inzwischen lebt die 23-Jährige in Berlin und studiert Geologie. Sie gewinnt einen hoch dotierten Nachwuchspreis, kann sich aber nicht freuen: Ihr Lawinengespür macht sich breit, und sie wird schwer krank.

Abgesehen von Einstieg und Ende des Romans gliedert die Autorin ihren Roman streng symmetrisch, was an Noras Liebe zu Struktur und Ordnung erinnert: Auf ein Kapitel aus Noras Berliner Leben folgt ein Kapitel über Leo, der in Moskau abgetaucht ist.

Dort haust er unter prekären Verhältnissen. Er lügt, stiehlt, säuft, dealt, ist obdachlos und schließt sich einer der vielen Straßengangs an. Es ist ein Katz- und Mausspiel zwischen Leo und Nora, aber eines ohne Boshaftigkeit: Leo feiert seine Orientierungslosigkeit. Nora will ihn endlich in Sicherheit wissen.

Paula Schweers ist ein großartiges Debüt gelungen. Nah dran an den so gegensätzlichen Halbgeschwistern aus kaputtem Elternhaus zeigt sie deren beständiges Ringen um- und miteinander, in dem sie sich am Ende – vielleicht – finden.

Eine Rezension von Andrea Lieblang

Literaturangaben:
Paula Schweers: Lawinengespür
Frankfurter Verlagsanstalt, 2023
255 Seiten, 24 Euro