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Jetzt läuft: Alexander Glasunow - Scènes de ballet, op. 52
Eine Partitur, die zu einer Spirale geformt ist.

Im Land der Minutenstücke

Minutenstücke sind possierliche Wesen: kaum sind sie vernommen, schon sind sie weg.

Miniaturen und Bagatellen oder große Formate, Breitwandschinken? – zwischen Konzentration (A) und Expansion (B) gibt es auch in der Musik Streit um die wahre und wahrhaftige Länge eines Stückes. Aus dem Manuskript:

B: Jetzt möchte ich auch mal ein Musikbeispiel auflegen dürfen.

A: Kommt drauf an, was. Es darf halt nicht zu lang sein.

B: Etwas schönes Langes, Großangelegtes, langfristig Anrührendes, etwas wirklich Mitreißendes, einen Entwicklungsroman, mit wechselnden Stadien, großen Anläufen und Aufschwüngen, mit geduldigen Umwegen, Staubecken, Hochplateaus, Gipfelketten...ein Großformat und Überformat, das alle Minutenstückchen, Miniatürchen und Minütchen generös übertönt, überrollt, überragt, wegfetzt...

A: In der Kürze liegt die Würze. Weniger ist mehr.

B: Weniger ist nicht immer mehr. Manchmal ist Mehr noch mehr!

A: Trödle nicht!

B: Überstürze nichts!

A: Fasse dich kurz! Keine lange Leitung bitte! Zieh dich nicht in die Länge! Öde nicht an! Lieber Bagatellen als Ballast! Lieber Lapalien als Überlänge! 

B: Hab Geduld. Laß dir Zeit. Öffne Räume!

A: Sei nicht langweilig! Sei liebenswürdig, sei bescheiden. Verpaß nicht den richtigen Zeitpunkt. Mach rechtzeitig Schluß!

B: Vorher aber expandiere! Baue eine Welt auf! Eine möglichst mehrdimensionale!

A: Gleichwohl wird auch unser nächstes Musikbeispiel ziemlich kurz sein.

B: Sie Luftikus! Sie Fliegengewicht!

A: Lieber ein Zaunkönig als ein Pottwal! […] Immer dieser Mut zum Pathos! Immer diese auftrumpfenden Prachtexemplare! Dieses Geklotze! Diese Großkotzerei! Fette ungeteilte Streichermassen. Dieser Aufwand an Klangkörper – für ein bisserl seelisches Mitzittern. Diese Material- und Kentaurenschlachten!

B: Entfaltete gedankliche Satzperioden, rote Fäden, epische Breite, epischen Fluß, Flüsse ohne Ufer, Ozeane aus Märchenströmen, und in Filmen lange, kunstvoll auskomponierte Einstellungen, Gustav Mahlers 'Kosmische', worin bereits der Kopfsatz eine Dreiviertelstunde geht, also drei Haydnsinfonien schluckt. Wobei Mahlers Dritte wiederum fünfmal in ein vierstündiges Streichquartett von Morton Feldman hineinpaßt, derweilen so eins wiederum dreimal in Richard Wagners Ring des Nibelungen hineinpaßt.

A: Nie wieder Breitwandschinken wie Mahlers 'Sinfonie der Tausend'! Nie wieder sich endlos vorwärtswälzen wie 'Das befreite Jerusalem' und 'Orlando furioso' von Tasso und Ariosto! Nie wieder Schlachtengemälde, statt Vignetten. […] Destillate! Konzentrate! Präzision! Quintessenz! Anton Webern! Der Stammvater, Schutzpatron und Säulenheilige aller Minutenstückkomponisten! Alchimist der Feinstziselierung! […]

B: Das geht mir alles viel zu hopplahopp. Doch bevor ich anfange zu staunen, weniger über die Musik als über ihre Kürze, ist das erstaunliche Objekt schon aus und vorbei...ich hole Atem...ich will mich gerade innerlich einstimmen auf eine neue, in sich geschlossene Klangwelt, und schon sind die Wespen und Koliobris für immer vorbeigeschwirrt. Schon heißt es: – puff! Alles zu Ende. Heimgehn. Tschüs.

A: Alles geht mal zu Ende.

B: Für mich sind das alles Frühgeburten, kurzatmig, zwergwüchsig, drollig, putzig, aber mehr halt auch nicht.

Im Land der Minutenstücke

WDR 3 open: Diskurs 19.04.2024 56:10 Min. Verfügbar bis 19.04.2025 WDR 3 Von Ulrich Holbein


Moderation: Ulrich Holbein
Montage: Katja Teubner
Redaktion: Frank Hilberg