Türkei Unzensiert - Exklusiv

Die Probe für 2019: Dekrete-Demokratie

Stand: 01.05.2017, 16:30 Uhr

Unter dem Ausnahmezustand, der nach dem gescheiterten Militärputsch im vergangenen Juli verhängt worden war, wurden bislang rund 145.000 Staatsbedienstete entlassen, mehr als 40.000 wurden inhaftiert. Betroffen sind vor allem mutmaßliche Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dessen Bewegung von Ankara für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. Aber auch kurdische Aktivisten, Oppositionsanhänger und Regierungskritiker wurden entlassen.

Von Bülent Mumay

Seit dem blutigen Putschversuch am 15. Juli 2016 erlebt die Türkei den wohl umfangreichsten Personalwechsel ihrer Geschichte. Mit den Befugnissen, die mit dem Ausnahmezustand kamen, wurden bereits 145.000 Personen entlassen, darunter etwa 52.000 Lehrerinnen und Lehrer. Rund 40.000 Menschen wurden verhaftet.

Da noch keine Urteile gesprochen wurden, ist nicht klar, ob die Entlassenen etwas mit dem Putschversuch zu tun hatten. Zudem auch viele Gülen-Gegner sich unter ihnen befinden. Von über zehntausenden Angeklagten wurden in den letzten neun Monaten gerade mal 23 verurteilt.

Mit den fast monatlich unterzeichneten Dekreten bekommt man eine Liste der Entlassenen, bei deren Lektüre man denken muss, dass die Regierung die öffentliche Verwaltung nicht nur von Gülenisten säubern möchte, sondern alle, die nicht so denken wie sie, loswerden will.

Die Akademiker für Frieden wurden entlassen, auch der renommierteste Verfassungsrechtler des Landes, Prof. Ibrahim Kaboglu. Wir sehen eine Türkei, in der sogar Journalisten der Cumhuriyet, die jahrelang gegen die Gülen-Bewegung geschrieben haben, inhaftiert sind.

MIT PUTSCH-DEKRETEN SCHRIFTSTELLER ENTLASSEN

Letzte Woche gab es nochmal zwei Eingriffe. Bei dem ersten wurden über 1000 teilweise hochrangige Polizeibeamte festgenommen, 9000 suspendiert. Zeitungen schreiben, dass die Zahl noch massiv steigen wird.

Der zweite Eingriff betraf die öffentliche Verwaltung. Über Nacht wurden hier 4000 Menschen entlassen. Darunter auch Angestellte, die preisgekrönte Schriftsteller sind oder feministische Forscherinnen.

Allein diese beiden letzten Eingriffe zeigen den Zustand der Paranoia im Machtapparat. So ist nun auch der Polizeichef von Eskişehir aufgrund FETÖ-Kontakten suspendiert worden, der noch vor wenigen Monaten demonstrierende Akademiker mit Worten wie „Ihr seit doch keine Lehrer“.

Oder auch in Sakarya: Nach dem 15 Juli hatte man in jedem Polizeipräsidium eine „Einheit zur Bekämpfung von FETÖ“ gegründet. In Sakarya wurde nun der Chef dieser Einheit entlassen. Er sei ein Imam der FETÖ gewesen. So nennt man hochrangige Kontakte der Gülen-Gemeinde.

Und noch ein Beispiel: Nach dem Putsch wurden in der Justiz die durch Suspendierung und Entlassungen freigewordene Posten schnell wieder aufgefüllt. Nun sind rund 200 Richter, die damals neu ernannt waren suspendiert worden.

AUCH KUPPELSHOWS UND WINTERREIFEN

Der Ausnahmezustand ist jetzt der Normalzustand. Nicht nur Kader in der Verwaltung werden mit der Vollmacht des Ausnahmezustandes aufgelöst, sondern es werden auch Schritte unternommen, die das alltägliche Leben neu formen. Mit dem letzten Dekret wurden auch Kuppelshows im Fernsehen verboten. Wahrscheinlich wurden hier Menschen verheiratet, und so der Putsch legalisiert(!).

Auch die Winterreifenpflicht wurde mit diesem Dekret eingeführt. Sicher wären wir auf glatten Strassen umhergeschlittert, wäre da nicht der Putschversuch gewesen.

Die Regierung regiert also das Land mit solchen Dekreten. Mit der Macht, die sie vom Parlament bekommen hat, umgeht sie das Parlament. Es ist eine Vorschau auf das, wenn der Präsidentenpalast 2019 alle Macht auf sich vereint hat.

Was heute passiert, traumatisiert jetzt schon einen Großteil der Gesellschaft. Egal welcher politischen Ausrichtung sie nahe stehen, die aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen sind in Bedrängnis.

Diese inzwischen fast 150.000 Menschen verlieren nicht nur ihre Arbeit, sie haben auch keine Hoffnung, eine andere Arbeit zu finden. Ihre Dienste für den Staat werden mit einer Unterschrift ausgelöscht und vergessen. Keine Bezüge mehr, keine Abfindung.

Und keiner traut sich in der gegenwärtigen Lage, denjenigen Arbeit zu geben, denen das Etikett “Putschist” angeklebt wird.

SIE WUSSTEN NICHT WOHIN: 37 SUIZIDE

Sie können ihr Glück noch nicht mal im Ausland versuchen. Denn ihnen und ihren Ehepartnerinnen oder -partnern werden die Reisepässe entzogen. Aus Verzweiflung arbeiten manche als Setzer im Verlag oder als diplomierte Reisverkäufer auf der Strasse. Sie versuchen am Leben zu bleiben.

Die BBC berichtet aber auch von 37 Selbstmordfällen in Zusammenhang mit dem Putschversuch und den danach folgenden Repressionen. Darunter auch der Lehrer Ergülü Yıldız aus Çorum.

Nach 21 Dienstjahren entlassen, erhängte er sich in seiner Wohnung. Seine Schwester erzählte der BBC: “Was meinen Bruder so bedrückte war, dass die Menschen auf der Strasse nicht mehr mit ihm sprachen. Seine Bekannten wandten sich von ihm ab, wernn sie ihn sahen.”