Buchcover: "Zu Gast im Westen" von Ingo Schulze

"Zu Gast im Westen" von Ingo Schulze

Stand: 12.04.2024, 12:00 Uhr

Unterwegs im Ruhrgebiet: Der aus Dresden stammende Schriftsteller Ingo Schulze zieht für ein halbes Jahr in den Westen und entdeckt eine Region, die mit seiner Herkunftswelt überraschend viel verbindet. Eine Rezension von Dirk Hohnsträter.

Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet
Wallstein, 2024.
344 Seiten, 24 Euro.

"Zu Gast im Westen" von Ingo Schulze

Lesestoff – neue Bücher 12.04.2024 04:53 Min. Verfügbar bis 12.04.2025 WDR Online Von Dirk Hohnsträter


Download

Es wäre unfair, den gebürtigen Dresdener Ingo Schulze als Neuling im Westen zu bezeichnen. Immerhin war er 2011 Stadtschreiber von Mainz und 2007 Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Und doch richten die Bücher des heute in Berlin lebenden Autors den Blick vornehmlich nach Osten und schöpfen ihre Stoffe aus dem Herkunftsland DDR.

Zudem hat Schulze sich vielfach mit kritischen Äußerungen zum wiedervereinigten Deutschland zu Wort gemeldet. Umso neugieriger macht es, dass er im Oktober 2022 nach Mülheim zog und für ein halbes Jahr im Ruhrgebiet lebte.

"Wie gesagt, einen Plan, was und worüber ich schreiben sollte, hatte ich nicht. Und erst allmählich begann ich, meine ›Methode‹ zu erkennen: Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen. Es gibt wohl kaum ein unsystematischeres Vorgehen. Aber jeder Plan wäre mir nicht weniger willkürlich erschienen. Dafür bescherte mir jede Einladung sofort einen persönlichen Bezug, und immer verbanden sich damit Anregungen."

Das Ergebnis seines Aufenthaltes ist ein 344 Seiten starkes Buch, bestehend aus 17 Kapiteln, einen Pro- und einen Epilog sowie einer knappen Vorbemerkung. Man kann die Texte unabhängig voneinander lesen, jeder einzelne berichtet von einer eigenen Begegnung, geht einer Beobachtung nach, lässt sich auf einen anderen Aspekt ein.

Zuerst aber muss der Schriftsteller überhaupt einmal in der neuen Umgebung ankommen. Wie ein Student, der gerade erst zuhause ausgezogen ist, kommt sich der gestandene Schriftsteller nach seinem Ortswechsel vor, ein absoluter Anfänger:

"Nach einer knappen halben Stunde komme ich endlich an eine Kreuzung mit Straßenbahnschienen, einer Sparkassenfiliale, einer zweiten Apotheke, sogar eine Post findet sich hinter der Ecke. Ich bin nicht nur am Ziel meiner Wünsche, also bei »Edeka Paschmann«, angekommen, sondern überhaupt am Mittelpunkt meiner neuen Welt, nämlich der »Broicher Mitte«. Wann habe ich das letzte Mal allein für mich eingekauft?"

Es ist ein neugieriger, wohlwollender und auch humorvoller Blick, mit dem Schulze seinen vorübergehenden Wohnort wahrnimmt. Wenn historische Hintergründe hilfreich sind, recherchiert er gründlich. Dann wieder macht er sich auf in die Gegenwart, berichtet aus Schulen und Stadien, von Flüssen, Friedhöfen und Theatern. Schulze interessieren Kulturschaffende ebenso wie Politiker, er trifft einen Polizeipräsidenten a. D. und findet ausgerechnet im tiefsten Westen zurück zum Dresdener Frühromantiker Wilhelm von Kügelgen, aus dessen Lebenserinnerungen bei einer Abendveranstaltung in Kettwig an der Ruhr vorgetragen wird:

"Schon nach den ersten Minuten kam ich mir vor wie ein vermögender Privatier, der einen Professor samt einem Kammerensemble engagiert hat, um etwas von dem versäumten Literatur- und Kunststudium nachzuholen, bevor man eine Reise nach Dresden oder wohin auch immer antritt. Am liebsten hätte ich mitgeschrieben."

Neben der ethnografischen Erkundung des fremden Terrains sind es Wechselwirkungen wie diese, die Schulzes West-Buch zu einem West-Ost-Buch machen. Ob er sich mit einem ehemaligen DDR-Flüchtling anfreundet oder es um die Frage geht, was aus einer von Kohlebergbau und Schwerindustrie geprägten Gegend im 21. Jahrhundert werden soll, Schulze bemerkt überraschende Vergleichbarkeiten und unverhoffte Zusammenhänge zwischen Herkunfts- und Gastgebiet.

Zurück in Berlin, erreicht den Autor Werbung von einem Lebensmittellieferdienst, dessen Kunde er im Rheinland war. "Wir vermissen dich!", lautet der Slogan der E-Mail, und für einen Augenblick ist der Schriftsteller versucht, ihn wörtlich zu nehmen:

"Ich verspürte tatsächlich den Impuls zu antworten, denn es erging mir ähnlich. Ich hätte natürlich erklären müssen, dass ich damit nicht den Lieferservice meinte, sondern es gern allgemeiner verstanden wissen wollte, Mülheim eben, Essen, Duisburg, Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum, Oberhausen, Herne, Bottrop, das Ruhrgebiet halt."