Buchcover: "Das Loch" von Hiroko Oyamada

"Das Loch" von Hiroko Oyamada

Stand: 19.06.2024, 07:00 Uhr

Ein Schritt nur in die Welt der Geister: Hiroko Oyamada führt eine gelangweilte junge Hausfrau an den Rand der Erkenntnis. Eine Rezension von Uli Hufen.

Hiroko Oyamada: Das Loch
Aus dem Japanischen von Nora Bierich.
Rowohlt, 2024.
128 Seiten, 22 Euro.

Wer vertraut ist mit den Animations-Filmen des Ghibli-Studios, der weiß, dass in Japan die Grenzen zwischen dem, was man so für die Realität hält, und einer Parallel-Welt wandelbarer Geister und Tiere durchlässiger sind, als bei uns. Eine gestreifte Katze zum Beispiel kann sich leicht zu einem breit grinsenden, zwölfbeinigen, rasenden Bus verwandeln – mit samtweichen Fellsitzen.

Allerdings nur für Menschen, die Augen haben um zu sehen. Was selten ist, wie Asa, Hauptfigur in Hiroko Oyamadas fabelhaftem Kurzroman "Das Loch", von einem Mann zu hören bekommt, der über diese Gabe verfügt:

"Im Allgemeinen sehen die Leute alle nichts! Wer etwas nicht sehen will, sieht es auch nicht. Auch Sie sehen bestimmt eine Menge Dinge nicht!"

Die Geschichte beginnt in einer schnell umrissenen, beinah wie aus Fertigteilen gebauten Realität. Asa ist um die 30 und verbringt ihre Tage mit unspezifischer, schlecht bezahlter Büroarbeit. Als ihr Mann eines Tages in eine andere Stadt befördert wird, hat Asa nichts dagegen, ihren Job aufzugeben.

Auch die Aussicht, direkt neben den Schwiegereltern in einem sehr kleinen Ort auf dem Land zu wohnen, schreckt sie nicht. Wir sparen die Miete – warum also nicht? Könnte das Leben als Hausfrau nicht ein Traum sein? Aus der grauen städtischen Welt der Büros und Computer gerät Asa in eine grüne, ländliche Welt und schon wird es seltsam:

"Durch das große Fenster sah ich in einen kleinen Garten. Er war nicht breiter als zwei oder drei Meter, es gab keinerlei Pflanzen, nur ein paar Pfützen. Und ein paar Löcher, die jemand gegraben haben musste. Vielleicht hatten die Katōs ja ihre Pflanzen mitgenommen, oder die Kinder hatten irgendwelche Streiche gespielt. Dahinter stand das Haus meiner Schwiegereltern. In ihrem Garten sah ich mehrere, vom Regen gepeitschte Bäume. Einen Moment lang glaubte ich, zwischen den Bäumen eine Person zu erkennen, doch als ich meinen Blick zu fokussieren versuchte, löste sich die Gestalt auf."

Auf den Regen folgt eine erdrückende Hitzewelle, die Zikaden singen so laut, dass Asa glaubt, eine könnte sich direkt in ihrem Körper angesiedelt haben. Und es stellen sich Fragen:

"Ist diese Person, die schon bis Mittag alles erledigt hat und bis zum Abendessen nicht weiß, was sie noch tun soll, dieselbe, die vorher nicht existieren konnte, ohne von morgens bis abends zu arbeiten?"

Überhaupt gibt es viel, was Asa nicht weiß. Wie jung sie und ihr Mann wirklich sind zum Beispiel. Oder was dieser seltsam form- und eigenschaftslose Eheann wohl den lieben Tag lang so treibt. Es ist nicht von Belang. Sollte es?

Eines Tages begegnet Asa einem rätselhaften pechschwarzen Tier, folgt ihm in ein Dickicht am Fluss voller Müll, Pflanzen und Gerüche, und fällt in ein Loch. Genau wie Alice im Wunderland, die dem weißen Hasen gefolgt war. Asa weiß es, die Leser wissen es, die Parallelen sind offensichtlich. Hiroko Oyamadas Löcher allerdings werden von dem pechschwarzen Tier gegraben. Auf Maß.

"Das Loch reichte mir bis zur Brust, es musste etwa einen Meter tief sein. Ich passte gerade hinein, so eng war es, um mich herum war kaum Platz. Es war wie geschaffen für mich."

Asa hat den Boden unter den Füßen verloren. Und doch gewinnt sie erst jetzt eine neue Art Überblick. Bald tauchen neue Familienmitglieder aus dem Nichts auf und verschwinden wieder. Schwiegermütter ähneln ihren Schwiegertöchtern mehr als den Kindern. Großväter gießen bei jedem Wetter den Garten und sterben dann innerhalb von zwei Sätzen. Und plötzlich ist dieses Dorf der Alten auch noch voller Kinder.

Es ist verblüffend: Obwohl – oder vielleicht besser: gerade weil – das alles so seltsam und verwirrend ist, besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass in diesem schmalen Büchlein mehr Erfindungsgabe und Entdeckergeist steckt, als in drei Dutzend handelsüblichen realistischen Roman. Und mehr Weltklugheit. Über Einsamkeit und menschliche Metamorphosen, über Angst und Aufbruch. Und über die Früchte der Langeweile. Es ist eine Freude.