Buchcover: "Tanz des Verrats" von Mathias Énard

"Tanz des Verrats" von Mathias Énard

Stand: 02.04.2024, 12:00 Uhr

Ein schmerzhaft zu lesender Roman von Goncourt-Preisträger Mathias Enard: über Verrat, Verlust und vor allem: Gewalt, die weder Opfer noch Täter je wieder verlässt. Eine Rezension von Nicole Strecker.

Mathias Enard: Tanz des Verrats
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller.
Hanser Berlin, 2024.
256 Seiten, 25 Euro.

"Tanz des Verrats" von Mathias Énard

Lesestoff – neue Bücher 02.04.2024 05:21 Min. Verfügbar bis 02.04.2025 WDR Online Von Nicole Strecker


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Rein materiell betrachtet, halten wir ein Buch in der Hand. Tatsächlich aber hat Mathias Enard zwei Romane geschrieben. Zwei Handlungstränge, die sich in ihrem Inhalt, ihrer Stilistik so sehr unterscheiden, als wären sie zwei Köpfen entsprungen. Die eine Geschichte ist roh, sinnlich, ein brutaler dreckiger Existenzkampf in der Gluthitze einer mediteranen Bergwelt.

Die andere ist angesiedelt in den feingeistigen Kreisen der Akademik, eine sensible Reflexion über die deutsch-deutsche Vergangenheit und die Ohnmacht der Liebe im Konflikt der Ideologien. In der einen ringt der Intellekt mit abstrakter, erinnerter Gewalt. In der anderen ist es ganz direkt der Körper.

Ein Mann ist hier desertiert. Seine Kleidung ist starr vor Schmutz und Schweiß. Unter seinen Fingernägeln klebt schwarz getrocknetes Blut. Denn wie schon in Enards frühem Roman "Der perfekte Schuss" ist dieser Mann ein Täter. Er gehörte zu einer Gruppe Söldner, die in einem nicht näher benannten Bürgerkrieg mordete, folterte, vergewaltigte.

"Er kennt die Gründe für sein Handeln nicht, er weiß nicht, wofür es gut ist, warum er so handelt, in welcher Absicht, womit welche himmlischen Triebfedern oder irdischen Machenschaften seine schmutzigen Hände führen."

Wir erfahren also nicht, woher die Grausamkeit in ihm kommt, und auch nicht, warum er sie jetzt hinter sich lassen will. Er will über die Grenze flüchten, trifft auf eine Frau, die ihn verraten könnte, weiß nicht, ob er sie töten soll. Gemeinsam sind sie der Gewalt des Gebirges ausgesetzt, der Schönheit und den Schrecken der Natur.

Mit expressionistischer Wucht erzählt Mathias Enard in diesem Teil des Buches. Die Sätze brechen immer wieder auf in die lyrische Exklamation. In poetische Spracheruptionen, die vielleicht inspiriert sind von Ernst Jüngers "Stahlgewittern", aber hier ganz klar ins Anti-Heroische gewendet werden.

"Der Krieg verändert die Anzahl der Dinge, neue Namen tauchen auf, ein plötzliches Flirren in der Luft, ein stählerner Wischstock für Kanonen, ein Fläschchen Mineralöl, der Schmerz, der Verlust, die Angst, ein unfreiwilliger Kontakt mit der Welt der Geschosse und Verwundungen, mit der ungewissen Welt des Schmerzes, des Exils und des Verlusts, der farblosen Welt von Khaki, Braun und Grau, der graugrünen Welt von Schweiß, Entsetzen und Schreien."

Atemlose, ekstatische Sätze – und dann blättert man eine Buchseite um und ist unvermittelt im Jahr 2001: Ein Akademikerzirkel trifft sich auf einem Schiff namens "Beethoven" auf der Havel. Mathematiker, Physiker, Logiker wollen ein Kolloquium in Erinnerung an den großen Mathematiker Paul Heudeber abhalten, einem Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald.

Dort und zuvor schon im Internierungslager in Gurs hatte dieser fiktive Heudeber Abhandlungen über die Unendlichkeit der Primzahlzwillinge und andere mathematische Phänomene verfasst.

"Ich spüre, dass ich kurz davor stehe, und es ist eine Freude, in die Welt der Zahlen abzutauchen, wenn um mich herum alle eingesperrt sind und alle der gleiche anhaltende, dumpfe Schmerz über das Fernsein plagt. Dass ich Mathematik betreibe, fasziniert meine internierten Kameraden (...). Ich stelle mir vor, dass man sich beim Abbau dieses Lagers fragen wird, warum die Bretter mit (...) Dreiecken und Hypotenusen bekritzelt sind!"

Mathematik sei ein anderer Name für Hoffnung, heißt es einmal. So ist es offenbar die Kraft des Intellekts, durch die Heudeber die Folter des KZ's überlebt – und das lässt nun an einen anderen Klassiker der Weltliteratur denken, Stefan Zweigs "Schachnovelle". Wie dort, liegt das Gewalt-Geschehen eigentlich in der Vergangenheit. Doch bei Mathias Enard bricht sich nun der Schrecken auch in der Gegenwart wieder Bahn: Die Terroranschläge von 9/11 erschüttern den Intellektuellenzirkel auf der "Beethoven".

Erst am Ende fügen sich in "Tanz des Verrats" die Fragmente über Paul Heudeber zu einer Geschichte zusammen. So wurde er als späterer DDR-Bürger und hartnäckiger Verteidiger des Sozialismus gleich mehrfach von seiner großen Liebe Maja, einer West-Politikerin in der Gefolgschaft von Willy Brandt, betrogen. Ein großer, schmerzhaft zu lesender Roman über Verlust, Verrat und vor allem über Gewalt, die weder das Opfer noch den Täter je wieder verlassen wird.