Von welchem Europa reden wir?

Sprachwissenschaftliche Analyse der Europadebatte im ARD Presseclub

Der Zusammenbruch großer Banken als Folge der Lehmann-Pleite zog eine europäische Staats- und Schuldenkrise nach sich. Aktien- und Devisenkurse wurden in Mitleidenschaft gezogen, auch der Eurokurs hielt der Belastung nicht lange stand. Die europäische Öffentlichkeit war tief beunruhigt. Apokalyptische Szenarien machten die Runde. In zehn Sendungen, allein im Jahr 2012, beschäftigte sich der ARD Presseclub mit dieser Entwicklung.

Welches Bild von Europa zeichneten diese Debatten? Diese Frage untersuchte die Darmstädter Sprachwissenschaftlerin Nina Kalwa an Hand von Protokollen der einzelnen Sendungen. Kalwa legte ihrer Analyse eine gesicherte Erkenntnis der zeitgenössischen Sprachwissenschaft zugrunde: Es existieren keine "vorgegebenen Wirklichkeiten", von denen wir uns ein Bild machen könnten. Die Eigenart der Sprache, mit der wir uns einem Phänomen kommunikativ annähern, ist es, welche die Konturen unserer Wahrnehmung prägt.

Metapher der Person spielt große Rolle

In der Diskussion über politische Sachverhalte spielt die Metapher der Person eine große Rolle. Der hohe Abstraktionsgrad des Diskurses über die Europapolitik lädt geradezu dazu ein. Manche mit einer Personifikation des Politischen verbundene Unschärfen lassen sich in Kauf nehmen. Aber das seinerzeit verwendete Bild vom "griechischen Patienten" zum Beispiel erwies sich als problematisch. Wer wurde damit angesprochen? Die Großbanken, die Regierung, die Wohlhabenden des Landes, das Volk? Mit dieser Umschreibung konnte der Eindruck entstehen, die Mentalität "der Griechen" und nicht die Versäumnisse ihrer Regierung oder der Institutionen der EU habe "Europa" in Gefahr gebracht.

Die Gleichsetzung der EU mit "Europa" und das Bild von Europa als Person sind seit langem ein Stilmittel des medialen Europadiskurses. In den Presseclub-Debatten des Jahres 2012 wurde "Europa" metaphorisch gleichsam wie ein Objekt behandelt, das der bestimmenden Kraft "der Märkte" zum Opfer gefallen: "Die Märkte sind die Herren Europas". Oder als ein Subjekt, das Zweifel an seiner Handlungsfähigkeit aufkommen ließ: "Schafft es Europa nicht, der Krise beherzt zu begegnen?" - "Europa ist unfähig". Die Verantwortung der Banken für die Krise blieb dabei übrigens meist unerwähnt. Von welchen europa-politischen Akteuren Abhilfe zu erwarten war, blieb, wie Nina Kalwas Untersuchung zeigt, in einer "Vielzahl von Äußerungen(..) unbestimmt". Entweder wurde auf das Indefinitpronomen "man" zurückgegriffen ("man muss den Willen haben, bestimmte Dinge endlich in Angriff zu nehmen") oder "wir" waren aufgerufen, die Krise zu überwinden.

Nina Kalwas Untersuchung öffnet uns die Augen dafür, wie schwer sich selbst sprachgewandte Presseclub-Teilnehmer in der Europakrise taten, zu der gewohnten politischen Rhetorik auf der internationalen Bühne auf Distanz zu gehen. Die gesamte Studie finden Sie im PDF-Dokument.

Klaus Radke, WDR

Stand: 30.07.2014, 14:47 Uhr