Aysegül Erenoglu

Junge Migranten im Porträt

Tanz zwischen Orient und Bergkamen

Stand: 21.11.2006, 12:03 Uhr

Aysegül Erenoglu ist in Deutschland geboren, sie lebt hier in der dritten Generation. Ihre Klassenlehrerin hatte die Idee, sie solle ihre Familiengeschichte erkunden. Das Ergebnis: eine Spurensuche zwischen Bergkamen und dem Schwarzen Meer.

Von Melahat Simkek

Aysegül ist ein selbstbewusstes, zierliches, junges Mädchen. Mit ihrer schwarzen, eckigen Brille und ihren wachen grünen Augen ermutigt die 16-jährige Hauptschülerin auch andere türkische Mädchen stark zu sein: "Ich sage was ich denke, auch wenn es jemandem nicht passt!", lautet ihr Motto. Sicher war auch ihre direkte Art ein Grund, weswegen sie zur Klassensprecherin gewählt wurde.

Die dritte Generation und die Suche nach Identität

Ihre türkischen Wurzeln holen die 16-Jährige im Alltag oft ein. Das prägt auch ihre Sprache: "Ich rede in einer Misch-Masch-Sprache zwischen Türkisch und Deutsch, oft fühle ich mich zweigeteilt", erzählt Aysegül. Ein wichtiges Erlebnis hatte sie im vergangenen Sommerurlaub in der Türkei, wo sie sich auf die Suche nach ihren Wurzeln machte. Dabei erfuhr Aysegül, die seit ein paar Jahren Gedichte in türkischer Sprache verfasst, dass schon ihr Urgroßvater herzzerreißende Gedichte geschrieben habe. Wieder ein Stück Tradition. Ihre schönsten Gedichte entstehen beim Urlaub in der Türkei. Es sind das schwarze Meer und die Spaziergänge durch die Felder ihrer Verwandten, die sie dabei inspirieren.

Türkischer Hintergrund auf federnden Sohlen

Bei aller Naturverbundenheit und Träumerei: Was ihren Beruf angeht, hat Aysegül handfeste Perspektiven. Sie möchte einmal Friseurin werden, am liebsten mit eigenem Salon und bekannt über die Grenzen von Bergkamen hinaus. Aufgewachsen zwischen zwei Kulturen gehört sie zur Generation türkischer Jugendlicher, die beginnt, langsam aus ihrem kulturellen Ghetto auszubrechen. Wenn man sie fragt, was den nun typisch türkisch an ihr sei, überlegt Aysegül nicht lange, steht auf, legt eine CD ein und ihr türkischer kultureller Hintergrund schwebt auf federnden Sohlen daher.

Mit ihrem "Oriental Bauchtanz", angesiedelt zwischen Bollywood, Osmanischem Reich und Modern Dance, hat sie ihren eigenen Stil entwickelt. Verbunden mit traditionellen türkischen Elementen nutzt sie den Tanz, um zwischen Orient und Okzident eine eigene Identität zu entwickeln - ohne dabei ihre Wurzeln zu verleugnen. Das gibt Aysegül viele Impulse und ist für sie mehr als ein kurzlebiger Trend. Jeden Abend wird geübt.

Bett und Tradition bei den Großeltern

So oft wie möglich besucht Aysegül die Eltern ihres Vaters, Pembe und Seyfik Ermisoglu, im Nachbarort Werne. Die Eltern ihrer Mutter leben wieder in der Türkei, kommen aber Aysegül ein- bis zweimal im Jahr in Deutschland besuchen. Wie so oft werden Aysegül und ihr jüngerer Bruder bei den Großeltern in Werne übernachten. Von ihnen hat sie sehr viel an türkischer Tradition gelernt, zum Beispiel Kochen. Für Pembe Ermisoglu ist es wichtig, den Enkeln türkische Kultur mitzugeben. "Woher man kommt, ist einfach unverzichtbar", erklärt die 57-Jährige und schaut unter ihren goldumrahmten Brillengläsern in die Runde.

Jugoslawien als Alternative auf halbem Weg

Zur Familie gehört auch Aysegüls Tante Dilek Ermisoglu, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern ihre Eltern besucht. Ihr Leben beschreibt sie als "Wanderung zwischen zwei Welten". Die 31-Jährige kann sich noch gut daran erinnern, wie sie früher mit dem Auto in die Türkei gefahren sind. Als Kind habe sie da immer gesagt: "Lasst uns doch in Jugoslawien bleiben, das ist genau die Mitte - zwischen Deutschland und der Türkei."

Ein Gefühl, das auch Aysegül kennt, so zwischen zwei Stühlen. Dort fühlt sie sich aber inzwischen wohl: Die Verschmelzung zweier Kulturen gibt ihr eine neue, reiche Identität. Und der Großmutter mal wieder Grund zur Rüge. Als Aysegül in ihrer Misch-Masch-Sprache telefoniert, meint die Oma kopfschüttelnd: "Du musst an deinem Deutsch und deinem Türkisch arbeiten."

Das Projekt ROOTS von Funkhaus Europa

Von Eritrea nach Stolberg, von Armenien nach Lünen oder von Kasachstan nach Gronau: WDR Funkhaus Europa bringt gemeinsam mit Hauptschülern die Geschichte ihrer Herkunft ins Radio. Angeregt durch den Wettbewerb ROOTS (aus dem Englischen: Wurzeln) haben sich die Jugedlichen intensiv mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinander gesetzt und sie aufgeschrieben. Aus über 100 Einsendungen wählte eine Fachjury beim WDR Anfang Oktober elf herausragende Geschichten aus, die als Radio-Reportagen produziert werden.