"Ich hatte jede Sekunde Angst": Das Schicksal eines Verschickungskindes
Stand: 13.09.2024, 13:21 Uhr
Misshandelt, gequält, gedemütigt: Udo Evers ist ein sogenanntes "Verschickungskind". Was seine Eltern für eine Kur hielten, verfolgt den Dülmener bis heute. Hier erzählt er seine Geschichte.
Von Katharina Hollstein (Text) und Ann-Christin Voßkühler (Multimedia)
Mitte der 1960er Jahre, irgendwo im Schwarzwald, mitten in der Nacht: In einem sogenannten Erholungsheim schläft der fünfjährige Udo Evers. Doch was friedlich scheint, ist für den Jungen ein Albtraum. Er darf sich nicht bewegen, sein Bett nicht verlassen, geschweige denn zur Toilette gehen. Aus dem Schlaf wird er mit schallenden Ohrfeigen geweckt.
So beschreibt Evers seine sechswöchige "Kur" im Schwarzwald. Der heute 58-Jährige ist ein Verschickungskind. Diese wurden zwischen 1950 und 1990 für mehrere Wochen in sogenannte Erholungsheime geschickt. Doch statt zur Ruhe zu kommen, wurden die Kinder von Mitarbeitenden häufig misshandelt, gequält und gedemütigt. So auch Evers. "Das war für mich eine absolute Katastrophe. Ich konnte das emotional gar nicht fassen", sagt er.
Wie hat Udo Evers seine Zeit im "Erholungsheim" erlebt?
00:17 Min.. Verfügbar bis 13.09.2026.
NS-Ideologie schlug sich wohl in Heimen nieder
Hunderttausende Kinder aus Nordrhein-Westfalen kamen laut Sozialministerium in diese Kurheime. Eine durch das Ministerium veröffentlichte Studie zeigt, dass die Erholungskuren für Kinder ursprünglich in der Weimar Republik aufgebaut wurden. Die Nationalsozialisten glichen die Organisation danach an ihre eigene Ideologie an. Das habe sich demnach auf die Mitarbeitenden sowohl mental als auch personell noch in den Nachkriegsjahren ausgewirkt.
Für viele Kinder war der Aufenthalt im Erholungsheim traumatisch
Evers Eltern wussten damals von nichts. Für sie machte ihr Kind nur einen Ausflug. Währenddessen wurde ihr Sohn im Schwarzwald immer wieder in ein Schwimmbecken geschubst - obwohl er nicht schwimmen konnte. Die sechs Wochen im Kurheim kamen Evers wie eine Ewigkeit vor. "Ich hatte jede Sekunde Angst. Das verfolgt mich bis heute." Das Vertrauen zu seiner Familie hatte Evers verloren. Mit seinen Eltern hat er nie über diese Zeit gesprochen. Ihm würde ohnehin niemand glauben, dachte er.
Vernetzung Betroffener: Udo Evers schreibt ein Buch
Erst 2020 erfährt Evers durch einen Fernsehbeitrag, dass er nicht alleine ist. Dass da noch mehr Menschen sind, denen das Gleiche passiert ist wie ihm. Und die ihm glauben.
Evers blättert in einem Buch. Auf dem Umschlag das Foto eines kleinen Jungen mit Koffer in der Hand. "Verschickungskind" lautet der Titel. Evers hat das Buch selbst geschrieben. Darin erzählt er von seinen Erlebnissen im "Erholungsheim". Dadurch werden auch andere Betroffene auf ihn aufmerksam. Karin Kempf etwa meldet sich persönlich bei Evers. Die beiden tauschen sich regelmäßig aus, freunden sich an.
Wie helfen sich die Verschickungskinder gegenseitig?
00:15 Min.. Verfügbar bis 13.09.2026.
Mit ihren Geschichten möchten Evers und Kempf auch andere Betroffene dazu ermutigen, laut zu werden. In Nordrhein-Westfalen setzt sich unter anderem der Verein "Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW" für die Dokumentation, Unterstützung und Vernetzung Betroffener ein.
Über dieses Thema haben wir auch am 23.07.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Münsterland, 19.30 Uhr.