Ein Mann hält ein Kind fest am Arm

Rituelle sexualisierte Gewalt: Wenn Kinder missbraucht werden

Kleve | Verbrechen

Stand: 20.02.2025, 16:09 Uhr

Jahrelang missbraucht ein selbst ernannter "Prophet" in Goch ein Mädchen. Was macht rituelle sexualisierte Gewalt mit Kindern? Wo bekommen sie Hilfe? Ein Experte gibt Antworten.

Von Stefan Weisemann

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Jahrelanger Missbrauch: Der "Orde der Transformanten"

Spezialkräfte der Polizei stürmen das ehemalige Kloster Graefenthal in Goch am Niederrhein. Es ist Ende Oktober 2020: Der Verdacht: Hier wird eine junge Frau seit Jahren gegen ihren Willen festgehalten und sexuell missbraucht.

Auf dem Klostergelände wohnen zu diesem Zeitpunkt rund 50 Mitglieder der niederländischen Glaubensgemeinschaft "Orde der Transformanten". Mitbegründet wurde der Orden von Thomas B. (Name geändert). Er ist der selbsternannte Anführer der Gruppe und ihr "Prophet".

Sarah, die eigentlich einen anderen Namen hat, kommt durch ihre Eltern in diese Gemeinschaft. Als sie 13 Jahre alt ist, fängt Thomas B. an, sie sexuell zu missbrauchen. Er hatte eine Vision von Gott, dass sie sich mit ihm verbinden soll, sagt er. Über Jahre gibt es Übergriffe. Den ganzen Fall zeigen wir bei WDR Lokalzeit Mordorte.

Jahrelang hat Sarah als Kind und Jugendliche in dem Orden in Goch sexualisierte Gewalt erlebt. Auch in anderen Gruppierungen und Sekten spielt diese Form der Gewalt eine große Rolle. Wie viele Kinder von ritueller sexualisierter Gewalt betroffen sind, ist unklar. Insgesamt schätzt die Weltgesundheitsorganisation, dass bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder müssen.

Nehmen die betroffenen Kinder wahr, dass ihnen Unrecht angetan wird? Wie können sie sich aus der Gewalt befreien? Und können sie später trotz der Erlebnisse ein normales Leben führen? Die Antworten gibt Alex Stern, er sitzt im Betroffenenrat der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Das Gremium berät die Missbrauchsbeauftragte und setzt sich für die Interessen von Betroffenen von sexualisierter Gewalt ein.

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Was ist rituelle sexualisierte Gewalt?

Lokalzeit: Inwiefern ist der Fall des "Orde der Transformaten" in Goch ein typisches Beispiel für rituelle sexualisierte Gewalt gegen Kinder?

Alex Stern: Grundsätzlich gibt es keine einheitliche Definition für rituelle sexualisierte Gewalt. Zwischen den Fällen, die meistens dazugerechnet werden, und dem Fall aus Goch gibt es aber einige Parallelen. Die Gruppierung hat in ihrer Innenwelt Regeln, die von der Außenwelt sanktioniert würden. Dazu kann die sexualisierte Gewalt an Kindern gehören. Außerdem ist typisch, dass eine angebliche höhere Macht als Rechtfertigung für diese Gewalt dient.

Lokalzeit: Wie sorgt eine solche Gruppe dafür, dass davon außen niemand etwas mitbekommt?

Stern: Solche Gruppierungen sehen sich selbst als "Erleuchtete" oder Elite, die angeblich die ganze Wahrheit kennt. Mit Angsterzeugung sorgen sie dafür, dass sich die Mitglieder von der vermeintlichen bösen Welt draußen abschotten und die Regeln nicht nach außen dringen. Diese Abschottung kann äußerlich sein, wenn eine Gruppierung sehr ablegen lebt. Aber Mitglieder können sich auch innerlich gegen die Außenwelt abschotten, wenn sie ganz normal zur Arbeit oder in die Schule gehen.

Lokalzeit: In dem Fall aus Goch waren die Eltern des betroffenen Mädchens Mitglieder der Gruppierung. So ist Sarah dort hineingelangt. Ist das die Regel?

Stern: Das ist wahrscheinlich am häufigsten, dass Kinder über die Kernfamilie in solche Gruppierungen geraten. Sie haben so natürlich kaum Möglichkeiten, sich aus der Gruppierung zu lösen. Gelegentlich gibt es auch Berichte, in denen zum Beispiel Onkel, Tanten, Großeltern oder Personen aus dem sozialen Umfeld die Kinder in die Gruppe bringen.

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Wie nehmen Betroffene die Gewalt wahr?

Lokalzeit: Wissen Eltern von der Gewalt gegen ihr eigenes Kind in solchen Gruppierungen?

Stern: Diese Frage müsste man in jedem Einzelfall den Eltern stellen. Ich kann mir vorstellen, dass sich manche aus solchen Gruppierungen lösen, wenn gegen ihr Kind Gewalt angewendet wird. Es ist aber auch vorstellbar, dass Eltern schlichtweg nicht mitbekommen möchten, was mit ihrem Kind passiert, oder die Gewalt für richtig halten. Vor allem, wenn sie selbst in der sozialen Dynamik dieser Gruppierung gefangen sind.

Lokalzeit: Nehmen die betroffenen Kinder die Gewalt selbst als falsch wahr?

Stern: Dafür bräuchten sie ein Referenzsystem, das ihnen sagt, dass das falsch ist. Wenn die Kinder aber isoliert in solchen Gruppierungen aufwachsen, haben sie das nicht. Sie gehen dann davon aus, dass die Gewalt gerechtfertigt ist. So kennen wir das auch bei sexualisierter oder körperlicher Gewalt in der Familie. Kinder, die verprügelt oder vergewaltigt werden, denken: Ich habe es verdient, weil ich etwas falsch gemacht habe. Oder: Das geschieht zu meinem eigenen Besten. Kinder lernen in solchen Gruppierungen auch häufig nicht das Wort Gewalt für das, was sie da erleben. Stattdessen hören sie Begriffe wie Ehre, Züchtigung oder Liebe.

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Wo bekommen Betroffene Hilfe?

Lokalzeit: Trotz jahrelanger Manipulation befreien sich viele Menschen aus solchen Gruppierungen. Wie geht das?

Stern: Indem die Menschen zum Beispiel eine engere Beziehung zu einem Menschen außerhalb der Gruppierung aufbauen. Dieser Mensch kann die strikte Trennung zwischen Innen- und Außenwelt aufbrechen. So fängt jemand vielleicht an, sich mit dem Wertesystem der Außenwelt zu befassen. Dann entstehen Zweifel, ob die Gewalt gerechtfertigt ist. In dem Moment des Zweifelns braucht es dann eine Unterstützung von außen.

Lokalzeit: Wo gibt es diese Unterstützung?

Stern: Zum Beispiel beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch. Dort haben die Mitarbeitenden viel Erfahrung. Es gibt auch spezialisierte Fachberatungsstellen zu sexualisierter Gewalt, die sich mit dem Thema auskennen. Grundsätzlich ist es aber leider oft Glück und Zufall, ob ich an der richtigen Stelle lande. Außerdem hängt die Hilfe sehr stark von der Gruppierung ab, aus der ich aussteigen möchte.

Das Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch

Auf dem Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch gibt es Hilfe und Informationen für Betroffene und ihre Angehörigen. Unter anderem kann man nach passenden Beratungsstellen in der Nähe suchen. Telefonisch unter 0800/2255530 oder per Online-Nachricht zu erreichen.

Lokalzeit: Inwiefern?

Stern: Komme ich aus einer Gruppierung, für deren Existenz es keine externen Beweise gibt, wird es schwieriger. Besonders im Bereich Satanismus und rechtsextremer Ideologien laufen Betroffene Gefahr, dass sie zunächst auf Hilfsangebote stoßen, die das als Verschwörungstheorie abtun. Da ist die Hilfe auf jeden Fall stark ausbaufähig. Und auch wir brauchen geschlechtsunabhängig passendere Hilfsangebote beim Gewaltschutz, um Ausstiege zu unterstützen, zum Beispiel auch für Jungen und Männer.

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Wie gelingt das Leben nach dem Ausstieg?

Lokalzeit: Welche Gefühle löst ein Ausstieg bei den Betroffenen aus?

Stern: Wenn jemand eine Gruppierung verlässt, egal ob als Kind, jugendliche oder erwachsene Person, dann ist da erst einmal ganz viel Verlust. Man hinterlässt sein soziales Umfeld und seinen bisherigen Lebensentwurf. Dazu kommt einerseits die Scham, in einer solchen Gruppierung mitgemacht zu haben und andererseits die Scham, die Gruppierung zu verraten. Oft gibt es auch Angst vor Rache. Es gibt Gruppierungen, die beten für den Tod von ehemaligen Mitgliedern oder schicken ihnen regelmäßig Drohungen hinterher. Manchmal kommt es auch zu körperlicher Gewalt von aktiven an ehemaligen Mitgliedern.

Lokalzeit: Wie schwer fällt es Betroffenen, sich ein neues Leben aufzubauen?

Stern: Das hängt von vielen Faktoren ab. Einmal davon, was jemand mitbringt, um irgendwo in der Außenwelt anzudocken. Es kann zum Beispiel mit einem guten Schulabschluss leichter sein. Manche können wegen ihrer Erlebnisse aber auch nicht wieder zur Schule gehen oder arbeiten. Dazu kommt, ob jemand gute Freundschaften hat, die ihm helfen. Gute Sozialkontakte außerhalb von Gruppierungen können eine unglaubliche Ressource sein beim Ausstieg.

Lokalzeit: Kann man nach dem Ausstieg aus einer solchen Gruppierung wieder ein normales Leben führen?

Stern: Wenn jemand in der Lage ist, eine solche Gruppierung zu verlassen oder das zumindest zu probieren, dann hat dieser Mensch eine unglaubliche innere Stärke. Der Prozess kann länger oder kürzer sein, mal schmerzhafter und mal weniger schmerzhaft. Aber eines ist klar: Ein Mensch, der aussteigt, ist nicht zerstört, sondern kann mit der Erfahrung wachsen.