Kriminalfälle aus NRW: Richard Oetker spricht über seine Entführung

Bielefeld | Verbrechen

Stand: 10.07.2024, 16:45 Uhr

Im Dezember 1976 wird der damals 25-jährige Richard Oetker vor der Universität Weihenstephan in Freising bei München entführt. Der fast zwei Meter große junge Mann muss sich in eine kleine, enge Holzkiste legen. Lösegeldforderung: 21 Millionen D-Mark.

Von Cornelia Böcker

Wir treffen Richard Oetker in Bielefeld, hier ist damals wie heute der Hauptsitz des Nahrungsmittel-Unternehmens. Der inzwischen 73-Jährige leidet noch immer körperlich unter den Folgen seiner Entführung im Jahr 1976.

Lokalzeit: Herr Oetker, können Sie uns bitte noch einmal mit zurücknehmen an diesen 14. Dezember 1976. Was war das für ein Tag? 

Richard Oetker: An diesem Tag besuchte ich ein Seminar an der Universität Weihenstephan. Ich bin an diesem Abend etwas früher als meine Kommilitonen aus dem Seminar gegangen und wollte zu meinem geparkten Auto. Da sah ich, wie schräg zu meinem Auto ein VW Kastenwagen geparkt war. Ich hätte, um zu meiner Fahrertür zu kommen, durch einen schmalen Spalt gehen müssen. Irgendwie wurde es mir mulmig und ich dachte, dass ich jetzt doch besser nochmal zurück ins Gebäude gehe und auf die anderen warte. In dem Moment, indem ich mich umdrehte, stand mir ein maskierter Mann gegenüber, eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand. Er sagte: "Das Ding macht nur klack. Los, vorwärts!"

Lokalzeit: Was ist dann passiert?

Oetker: Meine Erinnerung setzt erst wieder ein, als ich in einer Kiste lag. Der Kistendeckel berührte meine Kniescheibe und drückte mich da reinIch war damals 1,94 Meter groß. Die ganze Kiste war überhaupt nur 1,44 Meter lang, so breit wie meine Schultern und 1 Meter hoch. Ich lag in dieser Kiste, wie ein Embryo im Mutterleib, nur nicht beschützt.

Lokalzeit: Wie ging es weiter?

Oetker: Dann fuhren wir irgendwo hin. Später habe ich erfahren, dass es in München war. Der Entführer sagte, ich müsste jetzt auf dem Kistenboden fühlen, da würde eine Kapuze liegen, die sollte ich mir überziehen. Danach würde die Kiste aufgemacht und dann würde mich der sogenannte Boss begutachten. Das war auch so. Ich konnte mich das erste Mal aufrecht hinsetzen und merkte auf einmal, wie an meinen Füßen herumgefummelt wurde. Das war der Moment, als mir die Fußfesseln angelegt wurden.

Lokalzeit: Die Nachricht, dass Sie entführt wurden, mussten Sie selbst an Ihre Familie auf ein Tonband sprechen. Was war das für ein Moment?

Oetker: Man hört auf der Aufnahme, wie schwer das für mich war in dieser emotionalen Situation. Ich bekam nur sehr schwer Luft. Man hat mir den Text vorgegeben und ich musste diesen Text sogar ein paar Mal wiederholen. Aus Sicht des Entführers hatte ich ihn nicht mit ausreichendem Nachdruck gesprochen. Das sollte ja sozusagen bei meiner Familie, den Angehörigen, Angst entstehen lassen, Druck machen. 

Lokalzeit: In dieser Nacht mussten Sie in dieser Kiste schlafen. Aber das war nicht alles.

Oetker: Der Entführer sagte mir, er hätte etwas gebaut. Eine Vorrichtung, die dazu führen würde, dass ich in dem Moment, indem eine bestimmte Lautstärke überschritten würde, einen elektrischen Schlag bekommen würde. Im ersten Augenblick habe ich das nicht geglaubt. Aber immer, wenn das Auto geparkt wurde, hatte ich etwas Licht in der Kiste. Und da sah ich, dass die Handschellen auf meiner einen Seite isoliert waren, und auf der anderen Seite nicht. Ich dachte, wenn man da einen Unterschied macht, dann wird da schon was dran sein.

Lokalzeit: Und stimmte es?

Oetker: Am nächsten Morgen, als er wiederkam - wodurch weiß ich nicht - aber es wurde der Stromschlag ausgelöst. Der ganze Körper bebte und die Schmerzen waren in dem Moment erheblich. Ich dachte, dass ich in dem Moment umgebracht werde.

Anmerkung der Redaktion: Richard Oetker versucht - trotz Schmerzen und Todesangst -die Nerven zu bewahren, sich zu orientieren und so viel wie möglich über den Entführer und seine Umgebung herauszufinden. Die Familie Oetker geht auf die Lösegeldforderung ein und zahlt die geforderten 21 Millionen D-Mark. 48 Stunden nach der Entführung wird Richard Oetker lebensgefährlich verletzt in einem Waldstück bei München gefunden.

Oetker: Als ich aus der Kiste konnte und in ein anderes Auto umgeladen wurde, hat der Entführer mir gesagt, ich sollte bis 100 zählen und dann erst die Kapuze absetzen. Ich hörte, wie er mit dem anderen Auto wegfuhr. Ansonsten hörte ich nur den Motor des Autos, in dem ich lag. Sonst war Ruhe. Dann ging auf einmal hinten rechts die Tür auf. Ich hatte nicht gehört, dass ein Auto näher gekommen war. In dem Moment dachte ich: So, jetzt bekommst du den Gnadenschuss von hinten. Doch es passierte nichts.

Erst zwei Jahre nach der Entführung, Anfang 1979, wird Dieter Zlof als Tatverdächtiger festgenommen, später wird er in einem Indizienprozess zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ein großer Teil des Lösegelds bleibt aber weiter verschwunden. Auch nach seiner Haftstrafe beteuerte Zlof immer wieder seine Unschuld.

Lokalzeit: Dass immer wieder der Eindruck entstanden sein könnte, der Täter habe zu Unrecht im Gefängnis gesessen, ließ Sie nicht los. Wie sind Sie damit umgegangen?

Oetker: Mich als Opfer und auch den einen oder anderen von der Polizei hat das unheimlich verärgert, weil wir uns sicher waren, dass Dieter Zlof der Täter ist. Wir wollten der Öffentlichkeit sozusagen beweisen, dass der richtige Täter verurteilt worden war. Uns war klar, dass uns das wahrscheinlich nur gelingen würde, wenn wir einen direkten Zusammenhang zwischen dem Lösegeld, was ja zum großen Teil nicht gefunden worden war, und Dieter Zlof herstellen könnten. Er wurde dann nach England gelockt und dort haben ihm die Behörden gemeinsam mit Scotland Yard eine Falle gestellt. Man hatte ihm angeboten, die restliche Summe von rund zwölf Millionen D-Mark in eine andere Währung umzutauschen.

1997 gelang dieser Plan. In London überführte Scotland Yard Dieter Zlof und stellte die über 12 Millionen D-Mark des Oetker-Lösegelds sicher. Zlof wurde in London festgenommen und wurde zu weiteren zwei Jahren Haftstrafe verurteilt.

Lokalzeit: Haben Sie Genugtuung oder Schadenfreude empfunden?

Oetker: Ich empfinde keine Rache, auch keinen Hass. Aber ja, ich muss sagen, in dem Moment habe ich schon Genugtuung empfunden. Dass wir 1997, also über 20 Jahre nach der Entführung, endgültig der Öffentlichkeit zeigen konnten, dass der Richtige im Gefängnis gesessen hat und dass er -  so wie ich ihm zuvor in die Falle gegangen bin - dann uns in die Falle gegangen ist.

Lokalzeit: Inzwischen sind Sie Vorstandsvorsitzender der Weisser Ring Stiftung, halten Vorträge, erzählen offen von Ihrer Entführung. Warum tun Sie das?

Oetker: Ich will anderen damit Mut machen, sich Hilfe zu suchen. Vielen Menschen fällt es schwer, mit jemandem darüber zu reden, was bei der Tat passiert ist. Auch Teile meiner Familie und Freunde konnten oder können bis heute nicht mit mir darüber sprechen. Ich selbst will dagegen ganz locker und offen damit umgehen. Ich würde immer allen raten, die Opfer geworden sind, auf die Menschen zuzugehen und zu zeigen, dass sie darüber reden wollen.

Lokalzeit: Die Erinnerungen an die Entführung bleiben. Wie gehen Sie damit um?

Oetker: Wenn Sie ein paar Mal in Ihrem Leben dem Tod ins Gesicht geschaut haben, dann relativieren sich sehr viele Dinge. Ich lebe noch und das alles ist fast 48 Jahre her. Ich habe mich daran gewöhnt, musste mich dran gewöhnen, dass ich einiges nicht mehr kann, was ich früher gerne gemacht habe. Auf der anderen Seite habe ich herausgefunden, welche anderen Dinge ich dafür jetzt kann. Und darüber freue ich mich jeden Tag.