Ein Gewaltforscher mit Optimismus: Warum es bald friedlicher wird
Stand: 30.01.2025, 16:35 Uhr
Clankriminalität, Messerstechereien, rechtsextreme Übergriffe auf Politiker, toxische Männlichkeit - die Nachrichten und soziale Medien sind aktuell voll mit solchen Meldungen. Manche glauben, dass es in Deutschland in Zukunft noch schlimmer werden könnte. Warum Gewaltforscher Dirk Baier anderer Meinung ist.
Von Florian Dolle
Gewalt ist auf dem Vormarsch
In Düren legen sich im November 2016 ein Vater und seine erwachsenen Söhne mit der Polizei an. Am Ende müssen zehn Beamte ins Krankenhaus, einer verliert fast sein Augenlicht. Der Anlass: Ein Strafzettel wegen Falschparkens.
Damals wechselte der 47-jährige Junus Samrah (Name geändert) am Straßenrand gerade die Reifen an seinem Auto. Als ein Mitarbeiter des Ordnungsdienstes einen Strafzettel für ein Auto auf der anderen Straßenseite ausstellen will, geht Samrah auf den Mann zu und bedroht ihn. Falls er das Knöllchen nicht zurücknimmt, werde das Konsequenzen für seine Familie haben.
Der Ordnungsdienstmitarbeiter ruft die Polizei, Samrah holt seine Söhne herbei. Als die Beamten eintreffen, eskaliert der Konflikt. Einer der Söhne prügelt kurze Zeit später so lange auf den Kopf eines Polizisten ein, bis dessen Augenhöhle bricht. Von dem Fall erzählt auch diese Folge Lokalzeit MordOrte:
Der Fall ging damals durch die Presse. Meldungen wie diese nehmen dabei in den vergangenen Jahren zu. Denn Gewalt ist in unserer Gesellschaft offenbar auf dem Vormarsch. Bei der vergangenen Erhebung der polizeilichen Kriminalstatistik stiegen die registrierten Fälle von Gewaltverbrechen - also gefährliche Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Totschlag und Mord - um 8,6 Prozent auf knapp 215.000. So viele wie seit 15 Jahren nicht.
Das ist die offizielle Statistik, das sogenannte "Hellfeld". Über die Gründe für den Anstieg und darüber, wo sich Deutschland im Hinblick auf Kriminalität hinbewegen könnte, spricht Lokalzeit.de mit Professor Dirk Baier. Der 48-Jährige ist Dozent für Kriminologie an der Universität Zürich.
Welche Rolle spielt das Internet bei der zunehmenden Gewalt?
Lokalzeit: Warum wird eine Gesellschaft gewalttätiger?
Dirk Baier: Diese Trends lassen sich meist durch Faktoren wie gesellschaftliche Ungleichheit, Armut oder Arbeitslosigkeit erklären. Wenn diese Faktoren zunehmen, steigt häufig auch die Kriminalität. Gelegentlich wird Gewalt auch zu einer Art Mode. Es gab in der Geschichte immer wieder Zeiten, in denen es "in" war, sich aggressiv durchzusetzen. Ein Beispiel ist die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016, die sich statistisch bemerkbar gemacht hat. Aktuell haben wir sehr präsente mediale Vorbilder, die solches Verhalten fördern. Wie Menschen in einflussreichen Positionen agieren, hat spürbare Auswirkungen. Das Gute an Moden ist jedoch, dass sie auch wieder verschwinden.
Prof. Dr. Dirk Baier, Polizeiwissenschaftler an der Universität Zürich
Lokalzeit: Sorgt auch das Internet für eine kürzere Zündschnur?
Baier: Wer sich ständig in hetzerischen Echokammern bewegt, trägt diese Haltung auch in den öffentlichen Raum, etwa gegenüber Polizei oder Rettungskräften. Diesen Zusammenhang gibt es. Aber wir kennen auch ganz andere Effekte, die im Umgang mit Medien auftreten. Denken Sie an die Jahrtausendwende, als die ersten sogenannten "Ballerspiele" populär wurden. Dort hat sich statistisch gezeigt, dass die Spiele sogar kurzfristig gewaltpräventiv gewesen sind. Gewalt wurde auf dem Bildschirm und weniger auf der Straße ausgelebt. Aber wir müssen vorsichtig sein, denn echte soziale Kontakte bleiben wichtig, vor allem für Jugendliche.
Lokalzeit: Während der Corona-Pandemie wurden viele soziale Kontakte eingeschränkt. Ist auch das ein Faktor?
Baier: Die Konsequenzen der Schulschließungen während Corona sehen wir jetzt, zwei Jahre später, auch in den steigenden Gewaltzahlen. Soziale Erfahrungen sind unverzichtbar. Ohne sie wird es problematisch. Wenn sich Menschen ins Private zurückziehen und ihre Zeit lieber am Handy verbringen als im echten Leben, entsteht so etwas wie ein kollektives Wegschauen. Nach dem Motto: Die Welt da draußen geht mich nichts an. Aber es braucht Menschen auf der Straße, die sagen: "So etwas tut man nicht."
Lokalzeit: Dafür gibt es doch die Polizei.
Baier: Ja, aber die allein kann das nicht leisten. Und auch nicht die anderen Ordnungsbehörden. In der Kriminologie sprechen wir von "informeller Sozialkontrolle". Wir brauchen Menschen im Alltag, zum Beispiel in der Bahn oder auf der Straße, die aktiv eingreifen, wenn Unrecht geschieht. Die auch Kinder und Jugendliche ermahnen, wenn sie über die Stränge schlagen. Deutschland braucht eine aktive Zivilgesellschaft.
Warum es bald friedlicher wird
Lokalzeit: Wie schafft man es, eine ganze Gesellschaft mehr in die Verantwortung zu nehmen?
Baier: Die Grundlage dafür ist bereits da: Die große Mehrheit in Deutschland wünscht sich ein friedliches Zusammenleben und lehnt Gewalt ab. Damit das gelingt, brauchen wir jedoch mehr Ressourcen für Schulen. Nur dort erreichen wir alle sozialen Milieus. In der Schule muss vermittelt werden, wie man Konflikte ohne Gewalt löst und respektvoll miteinander umgeht. Sicherheit muss aus der Gesellschaft selbst heraus entstehen. In einem Land mit 85 Millionen Einwohnern kann man nicht alles kontrollieren. Und das wollen wir auch gar nicht.
Lokalzeit: Haben wir aktuell rechtsfreie Räume in Deutschland?
Baier: Nein, solche Zustände haben wir hier nicht. Allerdings existieren Bereiche, in denen die Bewohner das Gefühl haben: Das ist unser Gebiet, hier hat niemand etwas zu suchen. Das betrifft oft Viertel, in denen viele Menschen gleicher Herkunft leben und eine gemeinsame Sprache sprechen. In solchen Fällen sprechen wir von Parallelgesellschaften. Die Polizei verfolgt jedoch bewusst die Strategie, solche Bereiche nicht sich selbst zu überlassen. In Problemviertel schickt die Polizei mittlerweile größere Streifen, etwa Sechserteams statt Zweierteams. Zustände wie in den USA oder Schweden, wo der Staat sich aus bestimmten Gegenden zurückzieht, gibt es bei uns nicht.
Lokalzeit: Warum wird es bald wieder friedlicher?
Baier: Weil wir die aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre ernst nehmen. Wir registrieren die Probleme, sprechen darüber und ergreifen Maßnahmen. Unser gesellschaftliches Bedürfnis nach Sicherheit ist groß, und wir reagieren, wenn sich etwas zuspitzt. Ich bin überzeugt, dass die Gewalt in Deutschland kurzfristig noch zunehmen wird. Aber der Höhepunkt könnte dieses Jahr bereits erreicht werden. Ob das tatsächlich so kommt, hängt von der großen friedlichen Mehrheit in unserer Gesellschaft ab. Sie muss sich deutlich zeigen und Minderheiten, die aggressiv auftreten, in die Schranken weisen.
Historisch gesehen folgten auf Phasen steigender Gewalt immer Zeiten des Rückgangs. Die sind weniger spektakulär und stehen selten im Fokus, aber sie werden kommen. Da bin ich Berufsoptimist.