Kriminalfälle aus NRW: Als Ali (10) tot in der Tiefkühltruhe liegt

Recklinghausen | Verbrechen

Stand: 19.02.2024, 16:51 Uhr

Im Sommer 1999 wird der Dorstener Stadtteil Hardt zum Tatort: Der zehnjährige Ali verschwindet spurlos. Ein Jahr später macht der Vermieter einer Wohnung in Dorsten eine grausame Entdeckung: Er findet die Leiche des vermissten Jungen in einer Tiefkühltruhe.

Von Hamzi Ismail

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Als Ali (10) ermordet wird

Ali lebt gemeinsam mit seiner Mutter und sechs Geschwistern in Dorsten. Mit seinem älteren Bruder ist er oft in der Dorstener Innenstadt unterwegs. Den 23-jährigen Karsten B. kennt Ali vom Sehen, sie grüßen sich. Am 19. Juli 1999 transportiert Karsten B. Tierstreu für sein Kaninchen mit dem Rad. Als Ali das Tier gern sehen will, schlägt B. vor, gemeinsam in seine Wohnung zu gehen.

Dort missbraucht der 23-Jährige Ali sexuell, packt ihn bei einem Fluchtversuch am Hals und erwürgt ihn. B. versteckt die Leiche in einer großen Tiefkühltruhe in seinem Wohnzimmer.

Alis Mutter meldet ihren Sohn als vermisst. Verschiedene Zeugen geben an, den Jungen zuletzt mit B. auf der Straße gesehen zu haben. B. wird mehrmals von der Polizei vernommen. Bereits drei Jahre zuvor wurde gegen ihn wegen sexueller Nötigung an einem Jugendlichen ermittelt. Trotz dieser Erkenntnisse wird B. lediglich als Zeuge geführt. Seine Wohnung wird damals nicht durchsucht.

Im September 2000 zahlt B. seine Miete nicht mehr, ihm wird der Strom abgestellt. Als sein Vermieter die Wohnung betritt und die Tiefkühltruhe öffnet, findet er die verweste Leiche von Ali. Die Polizei nimmt Karsten B. fest. Vor Gericht gesteht er die Tat und wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

Für "MordOrte" hat sich WDR-Reporter Hamzi Ismail tiefer in den Fall und in die Ermittlungsarbeit der Polizei eingearbeitet. In den Akten sind ihm einige Ungereimtheiten aufgefallen, die er in seinem Film aufzeigt. Wie kann es sein, dass die Ermittlungskommission der Polizei nach nur einem Monat aufgelöst wurde, obwohl Ali noch immer verschwunden war?

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Interview: Der erste Eindruck

Für Lokalzeit.de hat sich der Autor zudem mit dem früheren Strafverteidiger von Karsten B. unterhalten, der von einer besonderen juristischen Wendung in dem Fall berichtet, die so vermutlich nur selten vorkommt.

Lokalzeit: Welchen Eindruck machte Karsten B. auf Sie, als Sie ihn das erste Mal trafen?

Volker Schröder: Als ich Karsten B. kennenlernte, befand er sich gerade in der Haftzelle des Amtsgerichts Dorsten. Er war sehr introvertiert, konnte keinen Blickkontakt halten und war sehr wortkarg. Ich habe ihm dann das weitere Prozedere erklärt. Er nickte nur und gab mir zu verstehen, dass er sich seinem Schicksal fügen würde. Karsten B. wusste, dass er einen Haftbefehl wegen Mordes erhalten würde, da er ja den Mord vorher auch schon bei der Polizei gestanden hatte.

Strafverteidiger Volker Schröder | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Karsten B. wurde zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Was heißt das in der Konsequenz?

Schröder: Ein Gericht kann nach 15 Jahren den Rest einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen. Dafür müssen aber auch weitere Voraussetzungen vorliegen, zum Beispiel darf keine weitere Gefahr mehr von dem Verurteilten ausgehen. Diese Prüfung nach 15 Jahren entfällt, wenn die besondere Schwere der Schuld eines Verurteilten im Gerichtsurteil festgestellt wurde. Dadurch verlängert sich dieser Prüfzeitraum um fünf Jahre, das heißt, es würde erst nach 20 Jahren eine entsprechende Prüfung stattfinden. Statistisch gesehen kommt ein Häftling, der zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, nach etwa 18 Jahren frei, wenn die entsprechende Schwere der Schuld festgestellt wurde, erst nach etwa 23 bis 25 Jahren.

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Warum Karsten B. für immer im Gefängnis bleiben will

Lokalzeit: Wissen Sie, wie es Karsten B. während seiner Haftzeit erging beziehungsweise wie es ihm heute geht?

Schröder: Karsten B. hat sich mit seiner Gefängnisstrafe arrangiert. Wie es ihm wirklich geht, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß aber, dass er jegliche therapeutische Hilfe von Anfang an abgelehnt hat. Während seiner inzwischen über 20 Jahre andauernden Haftzeit hat Karsten B. allerdings drei Suizidversuche unternommen.

Karsten B. gestand und wurde zu einer lebenslangen Haft verurteilt | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: Warum hat Karsten B. eine therapeutische Behandlung abgelehnt?

Schröder: Weil er darin keinen Sinn sieht, sagte er mir. Karsten B. stuft sich selbst nach wie vor als gefährlich ein. Er hatte mir und auch dem Gericht gegenüber mitgeteilt, dass er nicht möchte, dass so etwas noch einmal passiert, und deshalb möchte er auch für immer eingesperrt bleiben.

Lokalzeit: Karsten B. sitzt doch aber seit über 20 Jahren im Gefängnis. Müsste er nicht bald entlassen werden?

Schröder: Eigentlich ja, aber Karsten B. hat beim Gericht schriftlich beantragt, ihn in Haft zu lassen. Dadurch hat er eine automatische Überprüfung seiner Gefährlichkeit nach 20 Jahren verhindert und erzwungen, bis zu seinem Lebensende im Gefängnis zu bleiben. Eine solche Prüfung würde erst dann wieder stattfinden, sollte Karsten B. seine Meinung ändern und irgendwann doch entlassen werden wollen. Aber auch in diesem Fall müsste erst eine positive Prognose über ihn gestellt werden.

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"Nur die wenigsten kommen wieder in Freiheit"

Lokalzeit: Wie wird entschieden, ob ein zu lebenslanger Haftstrafe verurteilter Gefangener wieder frei kommt?

Schröder: Ob und wann jemand nach einer lebenslangen Freiheitsstrafe entlassen wird, entscheidet die Strafvollstreckungskammer, jedoch erst nach Einholung eines psychiatrischen Gutachtens. Darin wird überprüft, ob und wie sehr sich der Mandant noch zu seiner entsprechenden Tat äußert und wie weit er das Ganze verarbeitet hat. Die schwierigste Frage, mit der sich ein Gutachter auseinandersetzen muss, ist die sogenannte Prognoseentscheidung. Das ist eine Aussage darüber, ob man den Strafgefangenen wieder in Freiheit lassen kann und ob er straffrei bleiben würde oder nicht.

Lokalzeit: Neben der besonderen Schwere der Schuld gibt es ja auch noch die Sicherungsverwahrung, die ein Gericht zusätzlich zur lebenslangen Haftstrafe anordnen kann. Was bedeutet das genau?

Schröder: Das heißt, dass ein Häftling wie zum Beispiel ein Serienmörder oder mehrfacher Sexualstraftäter, der als besonders gefährlich gilt und vor dem die Allgemeinheit geschützt werden muss, nach seiner Haftstrafe im Gefängnis in den sogenannten Maßregelvollzug wechselt. Das Bundesverfassungsgericht hat einmal entschieden, dass diejenigen, die neben der Freiheitsstrafe zur Sicherungsverwahrung verurteilt wurden, nicht in einem normalen Gefängnis oder Zellentrakt untergebracht werden dürfen. Daher wird für diese Verurteilten eine gesonderte Abteilung eingerichtet. Die Sicherungsmaßnahmen sind identisch mit denen im Gefängnis, die Verurteilten werden nur etwas besser betreut. Auch wenn für diese Gefangenen jedes Jahr eine neue Prognoseentscheidung stattfindet, bleiben sie meist ihr Leben lang im Maßregelvollzug. Nur die wenigsten kommen wieder in Freiheit.