- Kapitel 1 : Der tödliche Messerangriff auf dem Send in Münster
- Kapitel 2 : Warum es mehr Messerangriffe gibt
- Kapitel 3 : Wer ein Messer als Waffe benutzt
- Kapitel 4 : Welche Schwachstellen Statistiken haben
- Kapitel 5 : Warum Messerangriffe nichts mit Nationalität zu tun haben
- Kapitel 6 : Wie Messerangriffen vorgebeugt werden kann
Der tödliche Messerangriff auf dem Send in Münster
Partymusik wummert, bunte Lichter blinken grell, es riecht nach Zuckerwatte. Es ist ein ausgelassener Kirmes-Abend im März 2023 auf dem Send in Münster. Doch am Ende ist ein junger Familienvater tot.
Mark D. ist mit seiner Verlobten und ihrem 8-jährigen Sohn auf dem gut besuchten Send unterwegs. An einem Fahrgeschäft rempelt er aus Versehen Victor A. an. Eigentlich eine harmlose Situation. Doch Victor A. reagiert aggressiv, zieht schließlich ein Messer aus der Bauchtasche seines Kapuzenpullis und sticht zu. Mitten ins Herz. Mark D. stirbt noch an Ort und Stelle. WDR Lokalzeit MordOrte zeigt den ganzen Fall und seine Hintergründe.
Die Zahl der Messerangriffe in NRW ist zuletzt deutlich gestiegen. Was sind die Gründe? Und wie sind diese Zahlen einzuordnen? Antworten gibt Dirk Baier, Polizeiwissenschaftler von der Universität Zürich. Er forscht seit vielen Jahren zu Kriminalstatistiken. Im Interview erklärt er auch, warum Waffenverbotszonen für ihn keine Lösung gegen Messerangriffe sind.
Warum es mehr Messerangriffe gibt
Lokalzeit: Wir hören und lesen immer öfter von Messerattacken. Ist das nur ein Gefühl oder nehmen sie tatsächlich zu?
Dirk Baier: Wir haben leider erst seit wenigen Jahren Zahlen zu Messerangriffen in den Kriminalstatistiken. Diese Zahlen sagen, dass es tatsächlich eine Zunahme gibt. Von 2022 auf 2023 haben wir einen deutlichen Anstieg festgestellt. Gleichzeitig haben wir aber auch einen Anstieg der Gewaltkriminalität insgesamt. Deshalb sage ich: Der zunehmende Messereinsatz ist Teil eines Trends zu insgesamt mehr Gewaltkriminalität in Deutschland.
Lokalzeit: Woran liegt es denn, dass immer mehr Menschen ein Messer mit sich herumtragen und es dann teilweise auch benutzen?
Baier: Einerseits ist es unglaublich leicht geworden, an Messer heranzukommen. Auch an verbotene Messer. Es gibt ein großes Angebot im Internet und in sozialen Medien. Andererseits steigt auch die Nachfrage. Bei jungen Menschen ist es eine Art Mode geworden, ein Messer dabeizuhaben. Weil Freunde das machen, muss man das auch machen, um dabei zu sein.
Wer ein Messer als Waffe benutzt
Lokalzeit: Versprechen sich junge Menschen vom Messer in der Tasche auch ein Stück Sicherheit?
Baier: Es gibt durchaus ein Unsicherheitsgefühl. Man will wehrhaft und vorbereitet sein, wenn man draußen unterwegs ist und eventuell angegriffen wird. Außerdem gibt es auch einen Trend, die eigene Männlichkeit stärker darzustellen. Da ist ein Messer ein sehr einfaches Symbol.
Lokalzeit: Heißt das, dass das Geschlecht bei Messerangriffen eine wichtige Rolle spielt?
Baier: Gerade im öffentlichen Raum werden Messerangriffe meistens von männlichen Personen gegen andere männliche Personen ausgeführt. Meist wird aber vergessen, dass es nicht gerade selten auch Messerangriffe bei häuslichen Streitigkeiten gibt. Da ist die Geschlechterverteilung dann nicht mehr so eindeutig. Hier werden also Frauen zu Opfern, aber eben auch zu Täterinnen.
Lokalzeit: Gibt es einen bestimmten Typ Opfer, der oder die mit dem Messer angegriffen wird?
Baier: Wenn wir hier wieder Messerangriffe im öffentlichen Raum betrachten, dann gilt: Opfer und Täter sind sich oft ähnlich. Es handelt sich eher um Männer, die zur Gewalt neigen, in entsprechenden Freundesgruppen unterwegs sind und für die Männlichkeit eine große Rolle spielt. Messergewalt spielt sich also eher unter Gleichen ab. Dass Dritte angegriffen werden, kommt auch vor, ist aber unwahrscheinlicher.
Welche Schwachstellen Statistiken haben
Lokalzeit: Sie haben die Kriminalstatistik anfangs schon angesprochen. Wie aussagekräftig ist sie in Bezug auf Messerangriffe?
Baier: Die Kriminalstatistik ist aktuell das Beste, was wir haben. Aber sie hat Grenzen. Die wesentliche Grenze ist, dass in der Statistik nur die Fälle auftauchen, die angezeigt wurden. Das heißt: Wenn Menschen beispielsweise aus Angst einen Messerangriff nicht anzeigen, dann taucht er in der Statistik nicht auf. Gleichzeitig reden wir in den letzten Jahren immer öfter über Messerkriminalität. Deshalb kann ich mir auch vorstellen, dass die Menschen da stärker sensibilisiert sind und Fälle auch öfter angezeigt werden.
Lokalzeit: Wie könnte die Statistik denn aussagekräftiger werden?
Baier: Wir könnten sie noch schärfer stellen. Also zum Beispiel nur Fälle registrieren, in denen tatsächlich ein Messer eingesetzt wurde. Bisher werden der tatsächliche Einsatz und das Androhen des Einsatzes noch zusammengefasst. Das ist schwierig, weil das Androhen nicht so schwerwiegend ist. Außerdem wissen wir auch nicht, ob die Kriterien der Polizei in Bayern genauso sind, wie die der Polizei in NRW.
Lokalzeit: Gibt es Möglichkeiten, zu ermitteln, wie viele Messerangriffe es tatsächlich gibt?
Baier: Mir wären am liebsten Statistiken, die unabhängig von der Kriminalstatistik sind. Also zum Beispiel Dunkelfeldbefragungen. Wir könnten Menschen fragen, ob sie ein Messer dabei haben und ob sie anderen damit auch schon einmal gedroht haben. Außerdem könnten wir Menschen fragen, ob sie schon einmal mit einem Messer angegriffen worden sind. Mit solchen Befragungsstudien würde man die Gesamtheit der Messerkriminalität sehen. Diese Statistiken haben wir aber leider noch nicht.
Warum Messerangriffe nichts mit Nationalität zu tun haben
Lokalzeit: Wenn die Kriminalstatistik also nur eingeschränkt belastbar ist: Wie groß ist die Gefahr, dass daraus falsche Schlüsse gezogen werden?
Baier: Wir wissen zum Beispiel, dass die Kriminalstatistik die Kriminalität von Ausländern überschätzt. Das hat etwas damit zu tun, dass diese Menschen öfter in Situationen sind, in denen sie zu Gewalt und Kriminalität gebracht werden. Die sozialen und persönlichen Umstände sind also entscheidend. Von daher ist für mich aktuell das größte Problem, dass wir fast nur über Staatsangehörigkeit und Messerkriminalität sprechen. Da muss man klar sagen: Staatsangehörigkeit hat nichts mit Kriminalität zu tun. Es gibt auch genug Deutsche, die Messer einsetzen.
Lokalzeit: Gibt es Orte, an denen tendenziell mehr Messerangriffe passieren?
Baier: Es dürfte ein Stadt-Land-Gefälle geben, wie wir es auch bei anderen Delikten in der Kriminalstatistik sehen. In Städten gibt es mehr Vorfälle. Das hat mindestens drei Gründe: Erstens finden sich hier mehr Menschen, die wegen finanzieller Benachteiligung und fehlender Integration kriminell werden. Zweitens gehen hier mehr Menschen aus - auch verbunden mit Alkoholkonsum, was zu Gewalt führen kann. Und drittens wird in der Stadt auch eher angezeigt, weil die Anonymität größer ist. Wenn Opfer und Täter sich nicht kennen, steigt die Bereitschaft zur Anzeige.
Wie Messerangriffen vorgebeugt werden kann
Lokalzeit: Unter anderem die Düsseldorfer Altstadt und Ausgehstraßen in Köln werden an Wochenenden zu Waffenverbotszonen. Ist das eine gute Maßnahme, um Messerangriffen vorzubeugen?
Baier: Waffenverbotszonen können durchaus für eine Beruhigung der Lage an einem bestimmten Ort sorgen. Allerdings sind die Effekte begrenzt. Das wissen wir aus ersten Untersuchungen zu diesen Zonen. Ein Problem ist, dass die Polizei genug Personal haben muss, um die Zonen zu kontrollieren. Außerdem können sich Menschen mit Messern auf die Kontrollen einstellen. Die Zonen sind aus meiner Sicht ein wichtiges Signal an die Gesellschaft und verdeutlichen den Ernst der Lage. Eine dauerhafte Lösung sind sie nicht.
Lokalzeit: Welche Rolle spielen Schulen bei der Vorbeugung?
Baier: Neben der Familie sind die Schulen der zentrale Ort, an dem junge Menschen die Regeln des zivilen Zusammenlebens lernen. Schulen haben daher einen hohen Stellenwert für die Prävention. Da geht es mir weniger konkret um das Tragen von Messern. Schulen sollten generell frühzeitig Empathie, Selbstkontrolle und die Fähigkeit zur Konfliktlösung vermitteln. Junge Menschen, die diese Kompetenzen haben, werden auch weniger zu Messern greifen.