Auf einem schmalen Gehweg liegt ein Stofftierhase. Links und rechts wächst Gras. Im Hintergrund stehen Bäume.

Kriminalpsychologe im Interview: Wie hilft man einem Kind nach einer Entführung?

NRW | Verbrechen

Stand: 21.04.2025, 17:04 Uhr

Eine Entführung ist eine extrem traumatische Erfahrung vor allem für ein Kind. Wie können Kinder und auch ihre Familien so etwas bewältigen? Ein Kriminalpsychologe gibt Antworten.

Von Tobias Lickes

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Täter von Kindesentführungen

Was tun, wenn das eigene Kind plötzlich nicht mehr nach Hause kommt? Die Vorstellung, dass das eigene Kind entführt werden könnte, ist wohl eine der größten Ängste von Eltern. Laut polizeilicher Kriminalstatistik wurden 2023 in Deutschland 1.850 Fälle von "Entziehung Minderjähriger" registriert. Fast alle davon sind Sorgerechtsstreitigkeiten zwischen getrennten Paaren. Nur in den allerwenigsten Fällen werden Kinder von unbekannten Menschen entführt - aber es kommt vor. Über drei Fälle von Kindesentführung und was dabei passierte, berichten wir in der aktuellen Folge von WDR Lokalzeit MordOrte.

Wie kann man Kinder vor einer solchen Situation schützen? Und was kann Kindern und ihren Familien nach einer Entführung helfen? Wir haben darüber mit Christian Lüdke gesprochen. Er ist Kriminalpsychologe und Traumaspezialist in Lünen und begleitet seit Jahrzehnten Angehörige von Entführungsfällen.

Lokalzeit: Wie muss jemand gestrickt sein, um ein Kind zu entführen oder sogar zu töten?

Christian Lüdke: Menschen, die Kinder entführen oder sogar töten, haben eine extrem hohe kriminelle Energie. Es sind Menschen, denen es um Macht, um Kontrolle geht. Sie haben in aller Regel immer eine schwere Beziehungsstörung. Sie haben ein ganz schwaches Selbstwertgefühl und kompensieren das dann durch Gewaltausübung. Die Gewalt, die sie ausüben, verwandelt ihr Gefühl von Ohnmacht in ein kurzzeitiges Erleben von Allmacht: "Ich bin allmächtig, ich bin Herr über Leben und Tod."

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Motive der Täter von Kindesentführungen

Lokalzeit: Welche Motive gibt es für Kindesentführungen?

Lüdke: Die Motive für Kindesentführungen können ganz unterschiedlich sein. Es können Beziehungstaten sein, das heißt, es gibt einen direkten Bezug zu der betroffenen Familie. Es kann Habgier sein, es kann darum gehen, einfach Geld zu erpressen. Teilweise können auch sexualisierte Motive eine Rolle spielen. Sie liegen aber in jedem Fall immer in der Psychologie des Täters begründet.

Christian Lüdke ist Kriminalpsychologe und Traumaspezialist | Bildquelle: WDR

Lokalzeit: … und sind wahrscheinlich sehr maßgeblich dafür, wie eine Kindesentführung am Ende ausgeht?

Lüdke: Es hängt immer davon ab, um welchen Tätertyp es sich handelt, wie er die Tat geplant hat. Denn es gibt eine Planungsphase, eine Annäherung an das Opfer oder die Opferfamilie und dann die eigentliche Tatdurchführung. Allerdings läuft es nicht immer so, wie Täter es geplant haben. Sie stehen unter hohem Stress. Dann kann es dazu kommen, dass Täter plötzlich auch ein Kind töten, obwohl es nicht ihr ursprünglicher Plan gewesen ist.

Lokalzeit: Das heißt, besonders gefährlich wird es für ein entführtes Kind im Grunde dann, wenn der Druck auf den Täter am höchsten wird?

Lüdke: Ein Kind ist immer in Lebensgefahr, wenn es entführt wird. Aber solange der Täter stabil ist, auch in einer solchen Ausnahmesituation, verfolgt er seinen Tatplan, zum Beispiel dass es ihm um die Erpressung von Geld geht. Gerät der Täter aber unter Stress, steigt natürlich die Lebensgefahr für das kindliche Opfer.

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Was tun nach einer Kindesentführung?

Lokalzeit: Mal angenommen eine Kindesentführung geht glimpflich aus, wie können die betroffenen Familien und auch die Kinder selbst mit so einer Erfahrung weiter machen?

Lüdke: Für die Betroffenen ist es immer wichtig, dass sie nach einer solchen Tat ganz viel Ruhe und Abstand haben. Wenn die Kinder jünger als zehn Jahre alt sind, sind Mama und Papa die wichtigsten Bezugspersonen. Das heißt also, die Eltern müssen ganz stabil sein. Sie müssen dem Kind stellvertretend Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Aber auch die Eltern brauchen ein stabiles, familiäres, freundschaftliches Umfeld, das ihnen hilft, dieses traumatische Ereignis zu verarbeiten.

Lokalzeit: Gibt es Dinge, die man tun kann, um Kinder vor Entführungen zu schützen? Kann man ihnen irgendwas an die Hand geben?

Lüdke: Man kann Kinder vorbereiten auf ungewöhnliche Situationen. Wir machen das seit vielen Jahren zusammen mit der Polizei. Es gibt spezielle Trainings, schon in den Kitas, in den Grundschulen. Kinder können lernen, sogenannte Anti-Opfer-Signale auszusenden: Das heißt, dass die Kinder lernen, Nein zu sagen, niemals mit einem fremden Menschen mitzugehen, immer erst Mama oder Papa zu fragen oder die Lehrerin zu fragen. Kommen Kinder in eine stressige oder Gefahrensituation, ist die Empfehlung, immer zu Frauen zu laufen, weil Täter in der Regel männlich sind.

Lokalzeit: Suchen Kinder nach einer Entführung die Schuld erst einmal bei sich?

Lüdke: Es kommt gelegentlich vor, dass Betroffene nach Beendigung einer Entführung Schuldgefühle haben. Das ist eine Selbsttäuschung des Gehirns. Wir Menschen versuchen immer alles zu verstehen, was in unserem Leben passiert. Das Kind kann das aber nicht und fragt sich: "Warum bin ausgerechnet ich Opfer dieser Entführung geworden?" Das ist aber immer ein Versuch, dieses Unvorstellbare dann irgendwie verstehbar zu machen.

Lokalzeit: Was können Sie für die Familien von Kindesentführungen tun?

Lüdke: In meiner Arbeit als Notfalltherapeut kann ich solche Familien stabilisieren. Ich kann sie beruhigen. Ich kann ihnen helfen, eine neue Orientierung zu finden. Ich kann ihnen viele hilfreiche Informationen geben, dass die Symptome, und alles das, was sie erleben, normale Reaktionen auf ein sehr außergewöhnliches, traumatisches Ereignis sind. Und manchmal gelingt es, diese Familien zu begleiten, dass sie wieder am normalen Leben teilnehmen können.