Es ist der 7. Juni 2010. Ein Mann geht zur Polizei in Gelsenkirchen und meldet seine Frau als vermisst. Er berichtet, dass sie schon seit fünf Tagen verschwunden sei. Er will sie zuletzt am Vormittag des 2. Juni gesehen haben, kurz bevor sie zum Einkaufen in die Nachbarstadt Essen fahren wollte. Eines unterscheidet diese Vermisstenanzeige von anderen: Der Ehemann ist selbst Polizist und sitzt somit einem Kollegen gegenüber.
Der Name seiner Frau ist Annette Lindemann. Sie ist damals 44 Jahre alt und Mutter von vier Kindern. Die Familie lebt in einem Haus in Gelsenkirchen-Buer. Die Suche nach der Vermissten beginnt. Schon bald übernimmt die Polizei Essen die Ermittlungen. "Aus Neutralitätsgründen", heißt es. Der besorgte Ehemann wird zum Tatverdächtigen und die Vermisstensuche zur Mordermittlung. Nachdem sich der Ehemann in Widersprüche verwickelt, geht die Polizei von einem Verbrechen aus. Doch bis heute reichen die Indizien nicht für eine Anklage aus. Von Annette Lindemann fehlt weiterhin jede Spur.
Mittlerweile ist der Ehemann kein Polizist mehr. Damals mussten Kollegen gegen ihn ermitteln, Aussagen machen.
Es ist einer von vielen Fällen, in denen Polizisten gegen andere Polizisten ermitteln müssen. Wie genau solche Ermittlungen innerhalb der Polizei in NRW gehandhabt werden, wie gut das funktioniert und wo Probleme liegen, damit kennt sich Professor Doktor Thomas Feltes aus. Er ist Polizeiwissenschaftler, war Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema.
Interne Ermittlungen: Wer ermittelt gegen wen?
Lokalzeit: Wie wird es in NRW gehandhabt, wenn gegen einen Polizisten oder eine Polizistin ermittelt wird?
Prof. Dr. Thomas Feltes: Es gibt in NRW die Regel, dass in solchen Fällen die Nachbardienststelle die Ermittlungen übernimmt. Wenn wir zum Beispiel einen Vorfall in Dortmund haben, übernimmt die Polizei Recklinghausen. Wenn wir einen Vorfall in Recklinghausen haben, übernimmt die Polizei in Dortmund. Bei der Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen leitet, gibt es keinen solchen Ortswechsel.
Lokalzeit: Wie sinnvoll ist diese Vorgehensweise aus Ihrer Sicht?
Prof. Dr. Feltes: Ich empfinde es als positiv, dass eine Dienststelle nicht die Ermittlungen gegen eigene Polizisten führt. Ob das unbedingt die Nachbardienststelle sein muss? Ich habe da meine Zweifel. Schließlich kennen sich die Beamten meist. In meinen Augen ist ein anderes Problem aber wesentlich größer: Die leitende Staatsanwaltschaft bleibt an dem Ort, an dem das Ereignis geschehen ist. Sie hat nicht nur in der Vergangenheit mit der Dienststelle zusammengearbeitet, gegen die sie jetzt ermitteln soll, sondern muss das auch in Zukunft tun. Hier haben wir, ich will jetzt nicht sagen, Abhängigkeiten, aber zumindest gute Kontakte.
Lokalzeit: Zu was kann das führen, wenn sich Ermittelnde und Verdächtige näher kennen, weil es sich um Kollegen handelt?
Prof. Dr. Feltes: Als Polizist habe ich tagtäglich Situationen, in denen ich mich auf Kolleginnen und Kollegen verlassen muss. Ich habe eine relativ abgeschottete Tätigkeit, der Schichtdienst gestaltet mein Leben auf bestimmte Art und Weise. Wir wissen aus Untersuchungen, dass sich so etwas wie eine Subkultur innerhalb der Polizei bildet. Wenn dann ein Beamter oder eine Beamtin einen Fehler oder eine Straftat begeht oder bei einem Einsatz überreagiert, sind Kollegen sehr zurückhaltend mit Anzeigen oder Aussagen in weiteren Verfahren. Dabei gilt bei der Deutschen Polizei das Legalitätsprinzip.
Lokalzeit: Wie könnte es denn Ihrer Meinung nach bei internen Ermittlungen besser laufen?
Prof. Dr. Feltes: Aus meiner Sicht wäre ein erster Schritt, dass Ermittlungen gegen Polizisten vom Landeskriminalamt übernommen werden. Oder Ermittlungen direkt an den Innensenator gehen und von dort aus geleitet werden, wie im Bundesland Bremen. Am sinnvollsten wäre, wenn wir eine wirklich unabhängige Institution hätten. Eine Einrichtung, die vollkommen getrennt von Polizei und Staatsanwaltschaft die Ermittlungen übernimmt.
Wie steht es um die Fehlerkultur bei der Polizei?
Lokalzeit: Wie sieht es Ihrer Einschätzung nach generell mit der Fehlerkultur innerhalb der Polizei aus?
Prof. Dr. Feltes: In der Polizei haben wir seit vielen Jahren das Problem, dass die Polizei als Institution den Eindruck erweckt, fehlerfrei sein zu müssen. Das färbt auch auf die Mitarbeitenden ab. Wenn Fehler gemacht werden, wird alles daran gesetzt, diese Fehler zu vertuschen.
Lokalzeit: Woher kommt das?
Prof. Dr. Feltes: Das ist ein Stück weit von der Politik gewollt. Natürlich weiß auch dort jeder, dass Fehler passieren können. Dennoch wird versucht, diese Fehler möglichst nicht nach Außen dringen zu lassen. Deshalb braucht es mehr Zivilcourage innerhalb der Polizei. Dass Beamte sagen: Jetzt ist Schluss! Das geht so nicht! Für mich ist das aktive Fehlerkultur.
Lokalzeit: Was würden Sie sagen, hält Beamte und Beamtinnen davon ab, häufiger einzugreifen, etwas zu sagen?
Prof. Dr. Feltes: Polizeibeamte können ihren Beruf nicht ohne Weiteres wechseln oder aufgeben. Polizist oder Polizistin zu werden, war ihr Wunschberuf. Und auf dem Arbeitsmarkt gibt es, bis auf private Sicherheitsdienste oder den Werksschutz, wenig Alternativen. Diese Voraussetzungen fördern den Willen, in dem Beruf zu bleiben. Das gelingt aber nur als Bestandteil der Subkultur Polizei. Äußern sich Beamte oder stellen Strafanzeige, werden sie quasi zu Außenseitern. Aus vielen Fällen wissen wir, dass man dann ein ganz schlechtes Leben innerhalb der Polizei hat.
Was müsste sich ändern?
Lokalzeit: Wie lassen sich diese Strukturen aufbrechen, die Sie beschreiben?
Prof. Dr. Feltes: Der Grundsatz muss sein: Mehr Fluktuation reinbekommen. Von Anfang an mehr Kontakt nach Außen haben. Die Strukturen aufbrechen, die die Polizei im Grunde genommen zu einer Gesellschaft innerhalb unserer Gesellschaft macht. Es gibt dafür Lösungsansätze in anderen Ländern.
In den USA können Polizisten zum Beispiel nach zehn oder 15 Jahren den Beruf wechseln. Sie bekommen eine Abfindung und eine Übergangsmöglichkeit. Es ermöglicht erschöpften Beamtinnen oder Beamten einen Ausweg. Der Berufswechsel ist keine Schande. In der Schweiz werden Beamtinnen und Beamte in höheren Funktionen, beispielsweise Polizeipräsidenten, von außerhalb der Polizei rekrutiert. Es wird also bewusst versucht, das Ganze durch externe Mitarbeitende aufzulockern.
Lokalzeit: Gibt es denn auch schon Positivbeispiele? Fälle, in denen es bereits anders läuft?
Prof. Dr. Feltes: In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gab es immer wieder Fälle von Vorgesetzten, die Personen bei Anzeigen von Straftaten oder Aussagen unterstützt haben. Ein bekannter Fall ist einige Jahre her und stammt aus Köln. Nach Misshandlungen haben dort zwei Kolleginnen ausgesagt. Der Dienststellenleiter hat sich von Anfang an hinter die beiden gestellt. Das hat auch Strahlkraft nach innen gehabt: Innerhalb der Polizei gab es eine große Solidarität mit den beiden Frauen.